Welche Signale erhalten Sie aktuell von Ihren Mitgliedern? Wie kommt die deutsche beziehungsweise europäische Automobilindustrie durch die Krise?
Die Situation in der Automobilindustrie ist sehr kritisch. Die Covid-19-Pandemie und die notwendigen gesundheitspolitischen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung stellen die Unternehmen vor eine beispiellose Herausforderung. Weltweit ist es auf allen Märkten zu erheblichen Verwerfungen gekommen, die mehrheitlich aktuell noch andauern. Mit Ende der Lockdowns in Europa hat sich das Geschäft zwar etwas belebt, doch die Absatzzahlen sind weiterhin dramatisch gering. Die unsicheren Aussichten dämpfen weiterhin die Kaufbereitschaft. Die Folge: Im ersten Halbjahr 2020 gingen die Pkw-Neuzulassungen in Deutschland um 35 Prozent zurück, in Europa sogar um 43 Prozent. Die Pkw-Produktion ist derzeit auf dem niedrigsten Stand seit 1975 angekommen.
Anfang des Jahres prognostizierte der europäische Autoverband ACEA einen Verkaufsrückgang von zwei Prozent. Das war vor Corona. Wie sehen die Prognosen aktuell aus?
Auch wir hatten zu Jahresbeginn für 2020 auf dem europäischen Markt einen Rückgang von zwei Prozent erwartet. Mittlerweile ist unsere Prognose infolge von Corona deutlich niedriger: Wir gehen mittlerweile von einem Minus von rund 17 Prozent aus. Auf dem europäischen Lkw-Markt erwarten wir sogar einen Rückgang von 36 Prozent. Entscheidend ist, wie jetzt die globale Nachfrage wieder anspringt.
Der europaweite Lockdown hat in zahlreichen Ländern auch die Produktionsbänder gestoppt. Seit Anfang Mai fahren die Werke langsam wieder hoch. Wo liegen die Schwierigkeiten?
Wir brauchen vor allem eine rasche Belebung der Nachfrage. Nur wenn der Absatz schnell wieder anzieht, kann auch die Produktion umfassend anlaufen. Erst dann kommt die Wertschöpfung entlang der gesamten automobilen Lieferkette und auch in vor- und nachgelagerten Branchen wieder in Gang. Und erst dann kommen die Menschen wieder aus der Kurzarbeit heraus und wir können Arbeitsplätze und die Wertschöpfung bei uns im Land halten. Arbeitsplätze in der Industrie, die wir mal verloren haben, sind dauerhaft weg. Das gilt vor allem für die Zulieferindustrie. Diese Arbeitsplätze entstehen dann in anderen Regionen der Erde.
Kurzfristig kurbeln Hilfspakete auf nationaler und EU-Ebene den Absatz an. Vor welchen Herausforderungen steht die Automobilindustrie langfristig? Wie blickt die Branche in die Zukunft?
Zunächst müssen wir abwarten, ob und in welchem Maß die Mehrwertsteuersenkung auf 16 Prozent Wirkung zeigt und inwieweit sie sich positiv auf den Absatz von Pkw und Nutzfahrzeugen auswirkt. Die aufgestockte Kaufprämie für Elektrofahrzeuge kann allein keine Initialzündung sein, um die Konjunktur anzukurbeln. Dafür ist dieses Segment derzeit einfach zu klein. Elektro- und Hybridfahrzeuge haben aktuell in Deutschland bei den Pkw nur einen Marktanteil von knapp zehn Prozent. Ob und wann die Hilfen aus dem EU Recovery Plan greifen ist noch völlig offen, ich befürchte vor 2021 wird dort kaum etwas wirksam – dies kommt möglicherweise für viele Unternehmen zu spät. Dennoch bin ich für die Zukunft grundsätzlich optimistisch. Die Automobilindustrie befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess, den wir entschlossen und mit hohen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung angehen. Unsere Mitgliedsunternehmen investieren bis 2024 etwa 50 Milliarden Euro in neue Antriebe, weitere 25 Milliarden Euro in Digitalisierung. Unser Angebot an Elektromodellen verdreifachen wir bis 2023 auf 150. Wobei wir schon heute, besonders auf dem heimischen Markt, stark vertreten sind. Unter den zehn in Deutschland am häufigsten verkauften Modellen mit Elektroantrieb befinden sich sieben Modelle deutscher Konzernmarken.
«Wir brauchen vor allem eine rasche Belebung der Nachfrage. Nur wenn der Absatz schnell wieder anzieht, kann auch die Produktion umfassend anlaufen.»
Hildegard Müller
Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie
Kann die Entwicklung der E-Mobilität von den staatlichen Hilfspaketen profitieren?
Die Kaufprämie für Elektrofahrzeuge, der verstärkte Ausbau der öffentlichen und privaten Ladeinfrastruktur sowie die Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie sind sinnvolle Treiber der Transformation und werden dazu beitragen, noch mehr Menschen für nachhaltige Mobilität zu begeistern. Aber es muss noch mehr getan werden, um die Elektromobilität zu fördern. Das gilt vor allem auch für den Ausbau der Ladeinfrastruktur.
Sind Klimawandel und Klimaziele aufgrund der Coronakrise in den Hintergrund gerückt? Wie steht es um die Emissionsziele der Branche?
Die deutsche Automobilindustrie steht auch in Zeiten der Coronakrise zu den Pariser Klimaschutz-Zielen. Die von der EU beschlossenen und gültigen CO2-Flottengrenzwerte bis 2030 stehen für uns nicht zur Disposition. Zudem begrüßt der VDA grundsätzlich die Initiative für einen „European Green Deal“ der EU-Kommission. Deutsche Hersteller und Zulieferer verbessern seit Jahren erfolgreich und stetig die CO2-Werte ihrer Fahrzeugflotte. Überlegungen für eine weitere Verschärfung der EU-Klimaziele für 2030, vor allem der Flottengrenzwerte für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge, sehen wir jedoch ausdrücklich kritisch. Es wird äußerst schwierig, wenn bestehende Vereinbarungen durch noch ambitioniertere Ziele ersetzt werden sollen. Wir befinden uns in der größten wirtschaftlichen Krise seit der Nachkriegszeit. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für alle andere Länder in Europa. Wir fordern daher alle Beteiligten auf, die angespannte wirtschaftliche Situation zum Ausgangpunkt aller Überlegungen zu machen, inwieweit die Unternehmen noch zusätzlich belastet werden können. Denn Klimaziele, die nicht realistisch sind, helfen weder dem Klimaschutz noch der europäischen Wirtschaft. Die Coronakrise hat uns auch gezeigt, dass wir Klimaschutz und Wirtschaftswachstum nicht als Gegensätze betrachten dürfen. Wir können die Herausforderungen des Klimawandels nur mit vernünftigem, an ökologischen Zielen ausgerichtetem Fortschrittswachstum meistern, sonst werden wir langfristig unseren Wohlstand nicht nur in Deutschland gefährden.
In der Krise wird vielfach Rückverlagerung von industrieller Produktion gefordert. Wie nachhaltig sind die Auswirkungen auf die Lieferketten in der Automobilindustrie?
Nicht erst seit der Coronakrise gibt es Forderungen nach Rückverlagerung von Produktion und damit vermeintlich verlorengegangener Wertschöpfung. Die Sicherung der Standorte in Deutschland und der EU ist eine wichtige Aufgabe – allerdings ist sie nur über den Erhalt und die ständige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und nicht über Abschottung. Aus Sicht der deutschen Automobilindustrie hat die Globalisierung wesentlich zum Erhalt und Aufbau von Wertschöpfung und Arbeitsplätzen im Heimatmarkt beigetragen. Mit einer Exportquote von über 75 Prozent sind offene Märkte auch für uns unerlässlich. Gleichzeitig investieren wir im Ausland und schaffen damit Knowhow-Transfer und Arbeitsplätze für weniger entwickelte Regionen der Welt. Mit mehr als 2.500 Produktionsstätten und den entsprechenden Arbeitslätzen im Ausland tragen unsere Mitgliedsunternehmen ganz wesentlich zum weltweiten Wohlstand bei. Die deutsche Automobilindustrie ist durch die Vielzahl an Zulieferern, Produktionsstandorten und vielfältigen Kundenbeziehungen im Kern eine europäische Industrie. Ein Reshoring, also eine Rückverlagerung von Produktion nach Deutschland, hätte somit auch negative Auswirkungen auf die europäische Wertschöpfung. Die Coronakrise, aber auch Protektionismus werden aber sicher zu einer Überprüfung und Diversifizierung der aktuellen Lieferketten führen.
Gibt es Krisengewinner im Automobilsektor, die von der Coronakrise profitieren?
Gewinner sehe ich im Bereich der Automobilindustrie nicht. Allerdings wirkt die Covid-19-Pandemie wie eine Art Katalysator auf die Unternehmen. Ganz besonders betroffen sind die kleinen und mittelständischen Betriebe, die die tiefgreifende Transformation und nun auch diese ausnahmslose Krise meistern müssen. Das gesamte wirtschaftliche Ausmaß können wir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht einschätzen. Eins ist sicher, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie werden uns noch lang begleiten – nicht nur gesundheitspolitisch und gesellschaftlich, sondern auch wirtschaftlich.
Inwieweit spielt Industrie 4.0 eine Rolle in der Post-Corona-Zeit? Wollen Autobauer nun verstärkt in die Automatisierung investieren, um ihre Mitarbeiter zu schützen?
Eine Welt wie wir sie vor der Corona-Pandemie hatten, werden wir sicher nicht mehr sehen. Arbeitsprozesse werden sich weiter verändern. Die Digitalisierung hat großes Potenzial, Effekte für den Mitarbeiterschutz, aber auch den effizienten Einsatz von Ressourcen zu erzielen. Insofern kann sich die Weiterentwicklung hin zur Industrie 4.0 beschleunigen. Nichtsdestotrotz bin ich davon überzeugt, dass eine dem Klimaschutz verpflichtete engagierte Industriepolitik die Basis für Wohlstand und Entwicklung in Europa setzen kann.
Verlangsamt Covid-19 die Entwicklung von Technologien im Bereich Autonomes Fahren?
Die Unternehmen müssen in der aktuellen Situation zuerst ihre Liquidität sichern und dafür sorgen, dass die CO2-Ziele erreicht werden. Denn wir wollen trotz Corona unseren Beitrag zum Klimaschutz leisten. Unsere Unternehmen planen deshalb, auch ihre Forschungs- und Entwicklungs-Budgets beizubehalten. Denn die auf dieser Basis geplanten Investitionen sind ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Zukunft der Automobilindustrie. Wir wollen unsere momentane Innovationsführerschaft in den Bereichen Elektromobilität, Batterietechnik sowie automatisiertes und vernetztes Fahren natürlich weiter ausbauen. Die deutsche Automobilindustrie hat 2018 44,6 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert – so viel wie die Branchen Elektronik, Maschinenbau, Pharma und Chemie hierzulande zusammen.
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