Alles bio – oder was?

Die Luft in den indischen Städten gehört zu den schlechtesten weltweit. Das will die Regierung nun ändern und setzt auf den Ausbau von Biogasanlagen. Damit will sie nicht nur der Umwelt helfen, sondern auch den Bauern im Land.

Juni 2020
Autor: Boris Alex

Bald dürften viele Autos in Indien Biogas tanken: Geht es nach der Regierung, soll der alternative Kraftstoff nämlich bald das weitverbreitete komprimierte Erdgas als Treibstoff ablösen. Staat und private Investoren stecken Milliarden in den Ausbau der Infrastruktur. © Bloomberg/Kontributor/Getty Images

Die indische Stadt Karnal im Bundesstaat Haryana unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von den unzähligen anderen mittelgroßen Städten des Landes. Und doch findet hier, drei Autostunden nördlich von Neu-Delhi entfernt, eine kleine Energierevolution statt. Im Oktober 2019 wurde der Grundstein zum Bau einer Biogasanlage gelegt, die – so das Ziel der indischen Regierung – mehrere Probleme auf einen Schlag lösen soll: zusätzliche Einkünfte für die Bauern generieren, für bessere Luft sorgen und alternativen Kraftstoff produzieren.

Vor allem das dritte Ziel ist in den vergangenen zwei Jahren immer stärker in den Fokus der Politik gerückt. Wegen der dramatischen Luftverschmutzung dürfen in Neu-Delhi und vielen anderen Metropolen Busse, Taxis und Rikschas schon seit Jahren nur noch mit komprimiertem Erdgas (CNG) fahren. Auf Indiens Straßen sind bereits heute schätzungsweise 3,5 Millionen Fahrzeuge mit CNG-Antrieb unterwegs.

Indien produziert Biogas selbst

Indien ist beim Erdgas stark auf Importe angewiesen. Fast die Hälfte muss teuer im Ausland beschafft werden. Bis zum Jahr 2030 soll sich der Erdgasverbrauch auf rund 200 Millionen Tonnen pro Jahr erhöhen und damit mehr als vervierfachen, prognostiziert die Regulierungsbehörde für die Gas- und Ölindustrie.

Da alle Fahrzeuge, die bislang mit Erdgas angetrieben werden, im Grunde genommen auch auf die umweltfreundlichere Alternative Biogas umsteigen könnten, sollen in ganz Indien Anlagen zur Herstellung von komprimiertem Biogas (CBG) gebaut werden. Die Anlage in Karnal wird perspektivisch jährlich 3.650 Tonnen komprimiertes Biogas herstellen können.

„Indien könnte jedes Jahr 62 Millionen Tonnen komprimiertes Biogas produzieren“, sagt Bijay Kumar, stellvertretender Geschäftsführer für den Geschäftsbereich erneuerbare Energien bei der Indian Oil Corporation (IOCL). Indiens größter Mineralölkonzern sieht bei Biogas großes Potenzial. „Bis zum Jahr 2025 sollen 5.000 neue Biogasanlagen 15 Millionen Tonnen CBG pro Jahr produzieren“, sagt Kumar. Damit könnten bis zu 40 Prozent des Erdgases im Transportsektor durch heimisches Biogas ersetzt werden, und die Importabhängigkeit beim Erdgas würde sich deutlich verringern.

3,5

Millionen Fahrzeuge mit Gasantrieb gibt es in Indien.

62

Millionen Tonnen Compressed Biogas (CBG) könnte Indien pro Jahr produzieren.

20

Milliarden Euro Investitionsbedarf gibt es in der CBG-Industrie bis 2025.

Quellen: Ministry of Petroleum and Natural Gas, Indian Oil Corporation

Investitionen in Milliardenhöhe

Um dieses Ziel zu erreichen, hat die indische Regierung bereits im Oktober 2018 das Förderprogramm Sustainable Alternative Towards Affordable Transportation (SATAT) ins Leben gerufen. Den Investitionsbedarf für die Biogasanlagen sowie für den Aufbau der Infrastruktur schätzt das Ministry of Petroleum and Natural Gas bis 2025 auf umgerechnet 20 Milliarden Euro.

Das Programm hat auch eine soziale Komponente. Offiziellen Schätzungen zufolge dürften durch den Ausbau der Biogasproduktion 75.000 Arbeitsplätze im Land entstehen. Und auch die Bauern könnten davon profitieren: Jedes Jahr benötigen die Anlagenbetreiber nämlich rund 50 Millionen Tonnen Substrat, das aus landwirtschaftlichen Nebenprodukten und Abfällen stammt – eine zusätzliche Einnahmequelle für viele Landwirte.

Jedes Jahr im Herbst brennen die Landwirte in Nordindien nach der Sommerernte die Getreidestoppeln auf ihren Feldern ab, da ihnen sonst nicht genügend Zeit bleibt, um das Saatgut für Winterpflanzen auszusäen. Die Auswirkungen dieser eigentlich verbotenen Anbaumethode bekommen die Ballungszentren im Norden Indiens zu spüren – allen voran die Hauptstadtregion.

Statt die Felder abzubrennen, sollen die Bauern künftig die Getreidestoppeln als Substrate an die Betreiber der Biogasanlagen verkaufen. Der staatliche Ölkonzern IOCL will in den Brennpunktregionen den Bau von 140 Biogasanlagen allein zu diesem Zweck finanziell unterstützen.

Lokalisierungsbedingungen beachten

Bei der Entwicklung der Biogasanlagen im Rahmen des SATAT-Programms ist vor allem der Privatsektor gefragt. „Der Ausbau der Biogaserzeugung bietet entlang der gesamten Wertschöpfungskette Geschäftschancen“, sagt Gaurav Kedia von der Indian Biogas Association. Für die Anlagen werden 5.000 Fermenter, Rührwerke und Gasreinigungssysteme sowie 50.000 Pumpen benötigt. Für die Umwandlung sowie den Transport und die Lagerung des Biogases müssen schätzungsweise 25.000 Kompressoren und 50.000 industrielle Druckgasbehälter beschafft werden. Darüber hinaus wird ein hoher Bedarf an Mess- und Prüftechnik für die Gaswirtschaft erwartet.

Da die 5.000 Biogasanlagen mit öffentlichem Geld gefördert werden, müssen die Projektentwickler wie in Indien üblich einen Teil der Ausrüstung bei indischen Herstellern beschaffen. Deutsche Firmen, die entsprechende Produkte und Lösungen anbieten, müssten diese also zumindest zum Teil in Indien oder gemeinsam mit einem indischen Partner produzieren.

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