Zerreißprobe!

Immer mehr Unternehmen holen die Beschaffung zurück in ihren Heimatmarkt – oder zumindest in die Nähe davon. Das sind gute Nachrichten: Europa hat in Sachen Beschaffung einiges zu bieten. Es gibt allerdings einen Haken.

August 2022
Autoren: Achim Haug, Fabian Möpert, Martin Gaber und Roland Rohde

Die Warnrufe sind nicht zu überhören: ausbleibende Lieferungen, knappe Halbleiter und explodierende Preise. Die Lieferketten sind in der Krise. Das ist inzwischen nicht nur bei Einkäufern ein Dauerthema, sondern betrifft durch die hohe Inflation auch die breite Öffentlichkeit. Zur Superkrise Corona gesellte sich im Frühjahr 2022 noch der Angriff Russlands auf die ­Ukraine – ein Krieg mitten in Europa. Die Unternehmen reagieren und suchen nach Auswegen.

»Firmen wollen die Importe aus China reduzieren«

Prof. Dr. Lisandra Flach, Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft, erklärt im Interview mit Markets International, wie es in Zeiten von Materialknappheit und dem Krieg in der Ukraine für Beschaffer weitergehen könnte.

„Wir sehen zwar kein Ende der Globalisierung, aber eine Umorientierung in den Lieferketten“, fasst Lisandra Flach, Leiterin des Ifo Zentrums für Außenwirtschaft, die Lage zusammen. Diese Umorientierung ist bitter nötig: Das Ifo Institut, zu dem das Ifo Zentrum für Außenwirtschaft gehört, erhebt im Rahmen seiner regelmäßigen Umfragen auch einen Index für Materialknappheit. Dieser hatte sich Anfang 2022 etwas erholt, um dann im Frühjahr durch die Decke zu gehen. In einzelnen Branchen wie Elektronik und IT meldeten mehr als 90 Prozent der Unternehmen ausbleibende Materialien und Vorprodukte. Die Lage könnte aber erst noch schlimmer werden, bevor sie wieder besser wird. Nicht nur die Inflation ist auf einem Rekordhoch, auch die Produzentenpreise steigen derzeit so stark wie noch nie. Im April verteuerten sie sich um 30,9 Prozent, Schuld waren vor allem explodierende Energie- und Rohstoffpreise. Viele Unternehmen haben diese Mehrkosten noch nicht an ihre Kunden weitergegeben. Und aus China droht weiteres Ungemach.

UKRAINE:
KRIEG STELLT ROHSTOFFLIEFERKETTEN AUF DEN KOPF

Der Krieg in der Ukraine belastet die Lieferketten immens. Sanktionen gegen Russland und Gegensanktionen des Kremls beeinträchtigen den Handel, Russland und westliche Staaten haben ihren Luftraum gegenseitig gesperrt. Die Folge: Im Luftverkehr zwischen Europa und Asien werden die Flugrouten dadurch deutlich länger – und der Spritverbrauch steigt. Zudem fehlen Lkw-Fahrer aus der Ukraine, was den ohnehin schon eklatanten Fachkräftemangel in der Logistik weiter verschärft.

Hinzu kommt, dass der Transit über Belarus und die Ukraine blockiert ist. Auch die als Alternative entwickelten Schienenverbindungen über Kasachstan und Russland funktionieren nur noch eingeschränkt. Die Route durch die Ukraine ist dicht, die Route durch Russland meiden sowohl Spediteure als auch Versicherungen. Sie fürchten, von Sanktionen kalt erwischt zu werden. Der Schiffsverkehr kämpft vor allem im Schwarzen Meer mit starken Beeinträchtigungen. Der größte Hafen, Odessa, ist blockiert. Von hier aus wird eigentlich Getreide in alle Welt verschifft, vor allem in afrikanische Länder und den Mittleren Osten. In diesen Staaten kommt es nun zu Versorgungsengpässen und explodierenden Preisen. Auch in Deutschland spüren die Verbraucher die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine – vor allem wegen der hohen Energiepreise.

Erdöl und Erdgas treiben Staaten und Unternehmen die Sorgenfalten auf die Stirn. Die hohe Abhängigkeit von russischem Erdöl und Erdgas sorgt nicht nur für hohe Heizkosten, auch die Erzeugerpreise in energieintensiven Branchen wie der Petrochemie oder der Glasindustrie schnellen nach oben. Die Sanktionen gegen zwei große russische und belarussische Staatskonzerne führten zu einer Preisexplosion bei Kalidüngemitteln. Auch Nickel, Palladium, Titan, Aluminium und Neon sind nicht ausreichend verfügbar und entsprechend teuer.

Hans Peter Pöhlmann, GTAI Bonn

Störfaktor China

Als inzwischen größtes Risiko kristallisiert sich Chinas Null-Covid-Politik heraus. Mehr als sieben Wochen dauerte der Lockdown im Frühjahr in Shanghai. Das ist nicht nur eine riesige Belastung für die Menschen vor Ort, auch die Wirtschaft leidet immens. Die 25-Milllionen-Metropole beheimatet den weltgrößten Containerhafen und ist ein sehr wichtiger ­Umschlagort für Waren in Richtung Deutschland. Nicht nur Shanghai ist betroffen: Mehr als 50 Megacitys waren zeitweise von Lockdowns betroffen.

Diese Störungen sind nicht die ersten im Geschäft mit China. Zahlreiche Riesenhäfen wurden in der Pandemie immer wieder geschlossen und die Produktion stockte durch Lockdowns oder Energieabschaltungen. Inzwischen wird die große Abhängigkeit von China nicht nur in den Hauptstädten, sondern auch in den Konzernzentralen kritisch beäugt. Dazu haben auch die chinesischen Handelsbeschränkungen gegenüber Litauen aufgrund der Taiwanfrage beigetragen: Während China Taiwan als abtrünnige Provinz und als Teil Chinas ansieht, versteht Litauen Taiwan als eigenständigen Staat. In der Folge löschte China Litauen aus seinem Handelsregister, Waren und Schiffe aus dem baltischen Staat lässt die Volksrepublik nicht mehr hinein. Durch den Ukrainekrieg und das Beijinger Bekenntnis zur „grenzenlosen Freundschaft“ mit Russland steigt das Unbehagen weiter.

Für Geschäftsbeziehungen und Lieferketten sind das schlechte Nachrichten. Aus ­keinem Land bezieht Deutschland mehr Waren, darunter viele Vorprodukte. Im Jahr 2021 importierte Deutschland Waren im Wert von 142 Milliarden Euro aus China, fast zwölf Prozent der gesamten Einfuhren. Bei vielen Elektronikprodukten ist China konkurrenzlos günstig, und bei Schlüsselrohstoffen sichert sich Beijing nicht nur strategisch Zugänge zu Minen, sondern kontrolliert auch die Weiterverarbeitung zu Endprodukten. Fast die Hälfte der vom Ifo Institut befragten deutschen Firmen sind auf Vorprodukte aus China angewiesen. Das große Umsteuern hat aber begonnen: Die Hälfte der von China abhängigen Firmen will künftig weniger aus der Volksrepublik beschaffen. Auch eine Umfrage der Europäischen Handelskammer in China im April 2022 ergab, dass fast ein Viertel der Befragten eine Verlagerung ihrer Investitionen aus China erwägen. So viel wie nie zuvor.

LED-LAMPE: OHNE CHINA LEUCHTET GAR NICHTS.

CHINA

Treiber: LED-Lampen arbeiten mit konstant niedrigem Gleichstrom, im Stromnetz läuft aber Wechselstrom. Deshalb brauchen die Geräte einen Treiber, der den Stromfluss reguliert. Er kommt meist aus China.

Leiterplatten: Sie sind die Träger für die LED-Chips. Mehr als die Hälfte weltweit stammt aus China, Taiwan, Südkorea und Thailand. Wie bei vielen elektronischen Komponenten gibt es hier keine Alternative zu Asien. Dort werden inzwischen Alternativen zu China aufgebaut.

Montage und Transport: Es gibt in Europa erst wenige Lampenfabriken, in der Regel kommen die Leuchten aus China. Die Preise für den Transport per Containerschiff haben sich verdreifacht.

JAPAN

LED-Chips: Die leuchtenden Halbleiter sind das Herzstück einer LED-Lampe: Ein Leuchtmittel besteht aus 20 bis 30 davon. LED-Chips gibt es in drei Qualitätsstufen: Die besten kommen aus Japan. Sie kosten 0,15 Eurocent pro Stück.

UKRAINE

Kabel: Viele Kabel stammen zwar ebenfalls aus China, aber auch die Ukraine und Nordafrika sind wichtige Kabellieferanten. Seit dem Krieg sind die Preise stark gestiegen.

RUSSLAND

Gehäuse: Die meisten Gehäuse werden zwar in China produziert (zum Beispiel bei LG Plastics in Ningbo), das Aluminium dafür aber stammt oft aus Russland. Die Preise sind zuletzt explodiert.

Visegrad-Staaten im Fokus

Die Suche nach Alternativen ist also in vollem Gange. Laut Ifo-Expertin Flach orientieren sich 80 Prozent der Unternehmen nach Europa – sowohl in die EU-Nachbarländer als auch in andere europäische Staaten. Gleich vier gute Alternativen liegen direkt nebenan: die Visegrád-Staaten. Die auch als V4 bezeichneten Länder Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sind für Einkäufer schon seit Langem eine feste Größe und als Beschaffungsmarkt deutscher Unternehmen nicht wegzudenken.

Seit dem Beitritt der vier Länder zur Europäischen Union (EU) im Jahr 2004 entwickeln sich die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Deutschland rasant. Zwischen 2004 und 2021 hat sich der bilaterale Warenhandel zwischen Deutschland und den V4-Staaten mehr als verdreifacht. Die V4 sind zusammen betrachtet wichtigster deutscher Außenhandelspartner: Im Jahr 2021 beschaffte Deutschland laut dem Statistischen Bundesamt Waren im Wert von rund 166 Milliarden Euro aus den vier Ländern. Das sind 24 Milliarden Euro mehr als aus China. Die V4 stehen heute für knapp 14 Prozent der deutschen Gesamteinfuhren. Eine wichtige Rolle im beiderseitigen Handel spielen traditionell Industrieerzeugnisse.

Das hohe Handelsvolumen geht zu einem wesentlichen Teil auf Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen zurück. Ende 2020 belief sich der Bestand deutscher Direktinvestitionen in den V4-Ländern laut Bundesbank auf insgesamt rund 90 Milliarden Euro. Als Produktionsstandort ist Ostmitteleuropa fest in die Wertschöpfungsketten der deutschen Wirtschaft integriert. Der Zulauf ist ungebrochen und könnte sich künftig verstärken.

Den Auslandshandelskammern in der Region zufolge suchen deutsche Firmen seit der Pandemie intensiv neue Zulieferer oder geeignete Investitionsstandorte. Lars Gutheil, Geschäftsführer der Deutsch-Polnischen Industrie- und Handelskammer, geht davon aus, dass Unternehmen in den kommenden fünf Jahren vermehrt auf regionale statt auf globale Lieferketten setzen werden. „Länder wie Polen gewinnen dabei als Standort für Nearshoring weiter an Bedeutung.“

Für Hans Boot, Einkaufsexperte bei der Beratungsfirma Durch Denken Vorne Consult, liegt das unter anderem am geringen Risiko der Region. Er berät vor allem mittelständische Unternehmen beim Lieferkettenmanagement und beobachtet einen Trend: „Wegen gestiegener Logistikkosten ist die Differenz beim Einkaufspreis eines Produkts zwischen Asien und Europa nicht mehr so entscheidend. Stattdessen setzen viele Firmen wieder auf Bezugsquellen in der Nähe, um Risiken zu minimieren“, sagt Boot.

T-SHIRT: ALLES ANDERE ALS NACHHALTIG

USA

Baumwollernte: Ein Großteil der Baumwolle kommt aus den USA. Beim Anbau werden zur Schädlingsbekämpfung Pestizide genutzt. 16 Prozent aller Insektizide weltweit landen auf Baumwollfeldern.

TÜRKEI

Garnherstellung: Spinnmaschinen, die häufig in der Türkei stehen, benötigen viel Strom. Auch der Paraffinverbrauch pro Kilogramm Garn ist hoch.

TAIWAN

Stoffherstellung: Nächste Station Taiwan: Hier wird aus dem Garn Stoff – durch Verfahren wie Weben, Stricken oder Wirken. Damit die Fasern geschützt sind und besser verarbeitet werden können, kommen Chemikalien zum Einsatz.

CHINA

Bleichen und färben: In China geht es an den Feinschliff. Um ein Kilogramm Garn zu färben, braucht man rund 60 Liter Wasser. Um ein Kilogramm Textilien zu veredeln, kommen 6.500 Liter Wasser zum Einsatz. 20 Prozent des weltweiten industriellen Abwassers entsteht bei der Textilveredelung.

BANGLADESCH

Konfektion, Nähen: Die meisten T-Shirts werden in Bangladesch produziert. Dort sind die Arbeitsbedingungen schlecht, die Löhne niedrig.

DEUTSCHLAND

Verkauf/Nutzung: Die Deutschen tragen ihre Kleidung im Schnitt 3,3 Jahre – dann fliegt sie in den Müll. Dazu kommt der hohe Stromverbrauch beim Waschen und Trocknen: Jedes Kleidungsstück wandert nach durchschnittlich zweimal tragen in die Wäsche.

NIEDERLANDE

Entsorgung: Altkleider werden in den Niederlanden sortiert und dann nach Afrika verkauft.

Nicht mehr die verlängerte Werkbank

Neben der geografischen Nähe zu Deutschland punkten die V4-Länder mit Standortfaktoren wie einer gut ausgebauten Transportinfrastruktur. Dadurch sind kurze und flexible Lieferzeiten nach Deutschland im Normalfall kein Problem. Grenzkontrollen und andere Handelshemmnisse gibt es dank der EU-Mitgliedschaft nicht. Investoren und Einkäufer schätzen die V4 zudem für die im EU-Vergleich überdurchschnittliche Arbeitsproduktivität bei international wettbewerbsfähigen Kostenstrukturen. „In den vergangenen zehn Jahren haben viele Unternehmen in Mittel- und Osteuropa ihre Fertigungs- und Verwaltungsprozesse optimiert und können in vielen Fällen mit den Preisen aus Asien mithalten“, sagt Sourcing-Experte Boot.

Die verlängerte Werkbank für günstige Teile mit geringer Fertigungstiefe sind die V4 allerdings schon lange nicht mehr. Zahlreiche kleine Unternehmen beherrschen komplexe Fertigungsprozesse, können damit hohe Qualität anbieten und erfüllen anspruchsvolle Normen. Die V4-Länder entwickeln sich dabei auch immer mehr zum leistungsstarken Partner für Forschung und Entwicklung. Deutsche Firmen können dort also auf ein dichtes Netz an qualifizierten Zulieferbetrieben zurückgreifen und somit ihre Beschaffung diversifizieren.

Vor allem große Automobilhersteller haben die Region für sich entdeckt. Fahrzeuge und Kfz-Teile sind eine zentrale Säule des Exporterfolgs aller V4-Länder. Tschechien ist Deutschlands größter Lieferant für Kfz-Teile. In der Slowakei werden pro Kopf so viele Autos gebaut wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ungarn spezialisiert sich mehr und mehr auf die Elektromobilität.

Bei der damit eng verbundenen Metallbearbeitung sowie der Gummi- und Kunststoffindustrie sind die Handels- und Investitionsbeziehungen mit Deutschland ebenfalls ausgeprägt. Interessant sind die V4 zudem für Einkäufer aus dem Maschinen- und Anlagenbau, der Elektrotechnik und der chemischen Industrie. Auch die Holzverarbeitung hat viel zu bieten, vor allem Polen ist für die Möbelindustrie ein interessanter Standort. Die Glas- und Keramikindustrie orientiert sich nach Tschechien, Nahrungsmittel liefern Polen und Ungarn in beachtlichem Umfang nach Deutschland.