April 2020
Autorin: Corinne Abele
Die COVID-19-Krise traf Shanghai in den chinesischen Neujahrsferien. Seither ist der erst am 8.1.20 eingeweihte nagelneue EuroCampus mit der deutschen und französischen Schule im Shanghaier Stadtteil Yangpu krisenbedingt temporär geschlossen. Gleich in den ersten Tagen der Krise traf der Schulleiter der Deutschen Schule Shanghai Yangpu mit seinem Kollegium eine mutige Entscheidung: Als erste Schule weltweit wird die Sekundarstufe seither ausschließlich mit der deutschen Lernmanagement-Plattform Nerdl unterrichtet.
Acht Wochen haben Lehrer, Schüler und Plattformentwickler inzwischen miteinander digital gelernt. Das Feedback hat die kostenlose Lernplattform Nerdl immens erweitert und verbessert. Ursprünglich war diese von Eltern und Schulleitung der Deutschen Internationalen Schule Silicon Valley als Unterrichtsergänzung für den Einsatz in Laptopklassen entwickelt worden. Im Gespräch schildert Sven Heineken, Schulleiter der Deutschen Schule Shanghai Yangpu, seine Erfahrungen.
Interview

© Deutsche Schule Shanghai
Von heute auf morgen auf Online-Learning umzustellen, das ist keine leichte Entscheidung. Wie kam es dazu?
Letztlich hat uns die COVID-19-Krise in den Ferien kalt erwischt und wir brauchten innerhalb von fünf Tagen eine Lösung. Ich habe 2013 die deutsche Schule im Silicon Valley besucht und daher gewusst, dass der damalige Schulleiter Martin Fugmann gemeinsam mit Eltern, die bei Apple und Google beschäftigt waren, an digitalen Lernlösungen gearbeitet hat. Seit 2016 leitet er das Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh, wo ich ihn angerufen und nach dem Lernmanagement-System Nerdl gefragt habe. Dann ging alles sehr schnell.
Nerdl hat einen digitalen Stundenplan mit Checklisten und vielfältigen Feedbackmöglichkeiten, den die Schüler anklicken können. Die Stundenplanstruktur hilft den Kindern, einen Überblick zu behalten und ihre Zeit besser zu organisieren. Das hat uns überzeugt.
Ich selbst bin unter anderem auch Informatiklehrer. Mein Kollegium ist im Vergleich zu Schulen in Deutschland kleiner und wir haben nur 140 Schüler und Schülerinnen in der Sekundarstufe – das hat uns vielleicht auch etwas mutiger gemacht. Und wie ein Kollege es formulierte: Das Gute an einer Krise ist, dass es keine Debatte mehr über das Warum und Wie technischer Neuerungen gibt. Sie sind einfach alternativlos.
Welche Erfahrungen haben Schüler-, Lehrer- und Elternschaft mit der Plattform gemacht?
Wir haben eine Umfrage bei den Eltern gemacht und hohe Akzeptanz erhalten. Rund 95 Prozent der Antwortenden sehen die Lernplattform Nerdl als grundsätzlich geeignet oder besonders geeignet an. Natürlich gibt es gerade in China auch Probleme mit der Erreichbarkeit der eingebetteten Videos und Links – daran arbeiten wir kontinuierlich. Das System ist vollkommen modular aufgebaut, so dass man viele unterschiedliche Inhalte und Medien integrieren kann.
Werden sie die Online-Learning-Plattform nach Wiedereröffnung der Schule weiter einsetzen?
Wir wollen nach der Wiedereröffnung daran arbeiten, On- und Offline-Lernen stärker zu verbinden und damit die jeweiligen Stärken zu nutzen. So gelingt mit Nerdl das individuelle Lernen besser; die Schüler können mehr selbst gestalten und ihr eigenes Tempo bestimmen. Auch projektartiges Lernen kann man besser umsetzen und zu Ergebnissen kommen, die man so im Unterricht nie hätte erreichen können.
Allerdings kann die Technik bestimmte Probleme nicht lösen. Soziales und kooperatives Lernen, all das, was ich mit anderen zusammen im täglichen Unterricht in der Klasse mache, kann sie nicht ersetzen. Den Schülern Feedback zu geben, ist dabei das A und O – das passiert im Klassenzimmer viel niedrigschwelliger. Nun müssen sich die Lehrer jede Einzelarbeit anschauen. Aber es zeigt auch, wie motivierend individuelles Feedback sein kann.
Ihre Schule ist zum Nerdl-Pionier geworden. Wie fühlt sich das an?
Unsere Schule ist die erste Schule weltweit, die den Unterricht komplett mit Nerdl bestreitet. Zuvor wurde die Plattform nur ergänzend eingesetzt. Mit dem Ausweiten der COVID-19-Krise haben wir weitere Anfragen anderer deutscher Schulen im Ausland bekommen. Inzwischen setzen es insgesamt sechs deutsche Schulen in Silicon Valley, Tokio, New Delhi, Moskau, das Evangelisch Stiftische Gymnasium in Gütersloh und wir hier im Shanghaier Stadtbezirk Yangpu ein. Vor kurzem hatten wir die erste weltweite Nerdl-Videokonferenz. Das war schon ein tolles Gefühl – und interessant zu sehen, wie es an den anderen Schulen läuft.
Was können Schulen in Deutschland aus ihrer Erfahrung lernen?
Shanghai ist ein Standort, an dem uns die digitale Technik an jeder Straßenecke begegnet. Digitales Lernen ist hier natürlich leichter umzusetzen. Das hängt auch mit der Geräteausstattung nicht nur der Schule, sondern auch der Familien hier vor Ort sowie der Internet-Infrastruktur zusammen. Dies sieht in Deutschland vielfach anders aus. Ohne die Mitarbeiter in der IT-Abteilung hätten wir das alles nicht leisten können. Hier muss auch in Deutschland dringend investiert werden. Wir benötigen ein einheitliches System, eine digitale Gesamtstrategie, die über Bundesländer hinweg umgesetzt wird. Sonst fällt uns das alles einmal auf die Füße.
Wir müssen hier einen deutlichen Schritt nach vorne wagen. Wir bilden diejenigen aus, die später in den Firmen arbeiten. Nur wenn das Bewusstsein bei allen da ist, kann der Schritt in Deutschland gelingen. Hier im Ausland habe ich gemerkt, wie wichtig dabei auch die Partnerschaft mit den Unternehmen ist. Wir können es uns nicht leisten, digitale Analphabeten in unsere Gesellschaft zu entlassen. Ich würde mir wünschen, dass die COVID-19-Krise unseren Blick auf Digitalisierungsprozesse in den Schulen ändert. Dann hätten wir schon viel erreicht.
Service & Kontakt
Weitere Informationen zum Lernmanagement-System Nerdl finden sich auf der Webseite des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums in Gütersloh.
Lesen Sie auch den China-Bericht „Coronavirus beschleunigt Digitalisierung der Wirtschaft„.
GTAI-Sonderseite zu den wirtschatlichen Auswirkungen der Coronakrise auf die Auslandsmärkte.
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