Die Müllrevolution

Lange Zeit galt Abfall im rohstoffreichen Russland als lästiges Nebenprodukt der Industriegesellschaft. Bedenkenlos wurde Müll auf Tausenden Deponien entsorgt und vergessen. Doch jetzt findet ein Umdenken statt – und ein Milliardenmarkt tut sich auf.

August 2020
Autor: Gerit Schulze

Bereit für den nächsten Schritt: Ein Drittel des Mülls soll nicht mehr direkt auf der Deponie landen, sondern recycelt werden. Wertstoffcontainer in Wohnsiedlungen sollen dabei helfen. © Gerit Schulze/GTAI-Moskau/Russland

Eine winzige Bahnstation, 1.200 Kilometer nordöstlich von Moskau, hat in Russland eine kleine Revolution in Gang gebracht. Im Niemandsland von Shiyes im Gebiet Archangelsk wollte die reiche Hauptstadt ihren Wohlstandsmüll entsorgen. Doch die lokale Bevölkerung ging ab 2018 auf die Barrikaden. Der Ort wurde zum Symbol für die landesweite Protestbewegung „Russland ist keine Müllkippe“ – und die Reform der Abfallwirtschaft nahm Fahrt auf.

Im ganzen Land wächst der Widerstand gegen übervolle Deponien mit giftigen Schwelbränden, Sickerwasser und Gasaustritt, gegen steigende Müllgebühren und Flächenfraß. Allein die 15.000 legalen Abfallhalden nehmen vier Millionen Hektar ein – eine Fläche so groß wie die Schweiz. Jährlich kommen 300.000 bis 400.000 Hektar hinzu.

Auch im Kreml sitzen nun Unterstützer einer modernen Abfallwirtschaft. Auf deren Initiative sieht Russlands Müllreform eine radikale Kehrtwende vor – weg von der flächendeckenden Deponierung hin zu Technologien der Ressourcenschonung und Wiederverwertung von Abfall. Dabei will das Land von anderen Staaten lernen.

„Kompetenzen aus Deutschland sind gefragt, vor allem technologische Erfahrungen“, bestätigt Swetlana Bigesse, Geschäftsführerin des Recyclingdienstleisters Remondis Russland, der in der Republik Mordowien tätig ist. siehe „Aus Westfalen in den tiefen Osten“, Seite 32 „Viele russische Regionen bauen jetzt Anlagen zur Abfallsortierung und -vorbehandlung. Da besteht Bedarf an Ausrüstungen und Komponenten.“

Bis 2024 will Russland die Deponiequote bei Hausmüll von zurzeit 95 Prozent auf 64 Prozent senken. Das heißt: Ein Drittel des Mülls soll dann nicht mehr direkt auf der Deponie landen, sondern wieder aufbereitet werden. Dafür muss zunächst ein Netz von Wertstoffcontainern vor allen Wohnhäusern entstehen. Laut Greenpeace hatte Anfang 2020 erst jeder fünfte Russe die Möglichkeit, seinen Hausmüll zu trennen. Außerdem ­sollen mehr als vier Milliarden Euro in die Rekultivierung von Deponien, in Sortier- und Recyclinganlagen fließen. Die Regierung plant außerdem den Bau von 250 Stationen zur groben Vorsortierung fester Siedlungsabfälle, 220 Werken zur Behandlung und Wiederverwertung von Abfall und 70 Ökotechnologieparks, in denen aus Müll neue Industrieprodukte entstehen.

Abfallwirtschaft
So klappt Ihr Russlandgeschäft

Nutzen Sie die Instrumente der Außenwirtschaftsförderung wie Zuschüsse für Messestände, Unternehmerreisen oder die Geschäftspartnersuche durch die AHK Russland.

Registrieren Sie Ihre Technologie auf dem Portal Germantech der AHK Russland. Das Portal hilft bei der gezielten Vermarktung deutscher Abfallverwertungstechnologien auf dem russischen Markt.

Nehmen Sie an wichtigen Fachmessen in Moskau teil wie Wastetech oder Wasma. Auch auf der Weltleitmesse Ifat in München treffen Sie wichtige Entscheider.

Suchen Sie sich zuverlässige Vertriebspartner vor Ort, die enge Kontakte zu den Entsorgungsbetrieben und regionalen Verwaltungen aufbauen.

Denken Sie bei entsprechendem Marktvolumen über eine Lokalisierung bestimmter Produktionsteile nach, um bei Ausschreibungen mit öffentlichen Zuschüssen zum Zuge zu kommen.

Industrieabfälle wecken Interesse

Neben Hausmüll rückt die Verwertung von Industrieabfällen in den Fokus. Besonders Metallurgie- und Chemiebetriebe wollen so ihre Betriebskosten senken und sich Zugang zu westlichen Kapitalmärkten durch das Auflegen von Green Bonds verschaffen. Wirtschaftlich genutzt werden könnten Aschen und Schlacken für den Straßenbau, Phosphorgips als Baumaterial oder Forstabfälle als Brennstoffe.

Experten schätzen die möglichen Umsätze mit der Entsorgung und Verarbeitung von Industrieabfällen auf rund 18 Milliarden Euro pro Jahr. Die staatliche Industrieholding Rostec drängt in diesen Markt und strebt ein Monopol für die Abfallklassen III (mäßig gefährlich) bis V (nahezu ungefährlich) an.

Ein anderer Staatskonzern, Rosatom, hat bereits einen Exklusivvertrag für hochgefährliche Abfälle der Stufen I und II bekommen, darunter Säuren, Quecksilber und Asbest. Das für die Atomenergie zuständige Unternehmen soll über seine Tochterfirma Rosrao solche Gefahrenstoffe erfassen und sicher entsorgen.

Geschäftschancen gibt es auch bei Bauschutt. Besonders in Moskau entstehen durch die massiven Investitionen in den Ausbau des U-Bahn-Netzes und den Abriss von Wohnhäusern enorme Mengen Abbruchmaterial. Russlands Hauptstadt will die wilden Deponien eindämmen und mehr Verarbeitungskapazitäten für Bauschutt aufbauen. Andere Regionen wie Tatarstan wollen folgen.

Deshalb ist seit Anfang 2020 auch die süddeutsche Firma West Baumaschinen GmbH gut im Geschäft. Das Unternehmen verkauft in Russland vor allem Industrieschredder für Gebäudeabfall. „Für solche Maschinen gibt es keine lokalen Hersteller, sodass wir nicht von der Importsubstitution betroffen sind“, berichtet Geschäftsführer Donald West. Ein russischer Geschäftspartner hilft bei der Kundenakquise, bei Verzollung und Zertifizierung der Anlagen. „Das ist angesichts der Sprachbarrieren und Vertragsverhandlungen dringend notwendig“, empfiehlt Firmengründer West.