August 2018
Autor: Carl Moses
Federico Kirschbaum (links) und Francisco Amato, Mitgründer der argentinischen IT-Firma Infobyte. Sie organisieren seit 2015 die Ekoparty, die größte Cybersicherheitskonferenz in Lateinamerika.
©ALEJANDRO KIRCHUK/NYT/Redux/laif
Pablo Di Si strotzt vor Optimismus. In Argentinien und Brasilien, den beiden größten Märkten der Region, sollen ab 2019 wieder deutlich mehr Autos von den Montagebändern laufen, erwartet der Chef von Volkswagen in Südamerika. Die Gründe aus seiner Sicht: Die Stabilität von Märkten und Politik werde zunehmen, die Nachfrage kräftig wachsen – in Argentinien selbst und in Brasilien, dem wichtigsten Exportmarkt für Argentiniens Autobauer. Volkswagen will deshalb 800 Millionen US-Dollar in den Ausbau und die Modernisierung seiner beiden Werke im Pampaland stecken.
Der dritte Grund für Di Sis Optimismus: In Argentinien sind Digitalisierung und Industrie 4.0 auf dem Vormarsch. „Das ermöglicht uns kürzere Entwicklungszeiten, eine schnellere Reaktion auf Nachfragetrends und eine höhere Qualität.“ Beim neuen SUV-Modell Tarek, dessen Fertigung ab 2020 im Werk Pacheco bei Buenos Aires starten soll, wird die Automatisierung im Karosseriebau 64 Prozent erreichen, in der Lackiererei 49 Prozent. Lediglich der Innenausbau wird dann noch überwiegend manuell erfolgen. Die Getriebeproduktion am Standort Cordoba, die fast vollständig für den Export arbeitet, ist bereits zu 70 bis 75 Prozent automatisiert.
Argentinien ist in den vergangenen zweieinhalb Jahren zum wirtschaftspolitischen Vorzeigeland Südamerikas aufgestiegen. Zwar haben Finanzturbulenzen die Konjunktur am Rio de la Plata zuletzt ins Stocken gebracht. Doch 2019 soll es wieder aufwärts gehen. Mit Rückendeckung des Internationalen Währungsfonds kommen die marktfreundlichen Reformen der Regierung von Präsident Mauricio Macri kontinuierlich voran. Die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung ist eins der Schlüsselvorhaben.
„Exzellente Perspektiven“ für die digitale Transformation Argentiniens sieht darum Guillermo Brinkmann, lokaler Chef der Softwareschmiede SAP. Argentinische Technologiekonzerne wie Mercado Libre und Despegar sind bereits Marktführer im Onlinehandel in ganz Südamerika. Die Softwareindustrie und andere wissensbasierte Dienstleistungen gehören seit Jahren zu den dynamischsten Wachstumsbranchen Argentiniens. Der Export entsprechender Leistungen war 2017 der zweitgrößte Devisenbringer nach der Landwirtschaft.
Auch Argentiniens Farmer sind heute eher Technologie-Nerds als Lasso schwingende Gauchos. Sie arbeiten mit Sensoren, Drohnen, Satellitenbildern und maßgeschneiderter Software, setzen Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel passgenau nach den spezifischen Anforderungen für jeden Quadratmeter Ackerboden ein.
STUDIE



Amtsstuben auf Digitalisierungskurs
Unter Führung eines gesonderten Ministeriums für Modernisierung arbeitet die Regierung mit Hochdruck an der Digitalisierung von Behörden. Die Justiz stapelt zwar noch Papier, Finanzämter nehmen Steuererklärungen inzwischen aber schon nur noch elektronisch entgegen. Auch im Gesundheitswesen setzt die Regierung auf Digitalisierung und Vernetzung. Elektronische Krankheitsakten sollen unter anderem die Überweisung von Patienten zwischen unterschiedlichen Gesundheitsdienstleistern vereinfachen.
Die Voraussetzungen für eine digitale Transformation Argentiniens sind unterschiedlich gut. Die Grundversorgung mit Kommunikationsdiensten und Endgeräten stimmt: Drei Viertel der Argentinier haben laut Google Consumer Barometer Zugang zum Internet, zwei Drittel sind täglich im Netz. Auf 100 Einwohner kommen 146 Mobilfunkanschlüsse, 73 Prozent der 44 Millionen Argentinier verfügen über ein Smartphone. Doch die Geschwindigkeit der Internetverbindungen ist um 15 Prozent niedriger als in vergleichbaren Nachbarländern. Erst die Hälfte der Sendestationen für Mobilfunk kann 4G übertragen.
Mit hohen Investitionen treibt Argentinien das überfällige Update der digitalen Infrastruktur voran. Private Telekom- und Medienkonzerne investieren rund fünf Milliarden US-Dollar in den Ausbau ihrer Netze, schätzt die Regierung. Das Staatsunternehmen Arsat, das über ein eigenes Breitbandnetz von 33.000 Kilometer Länge verfügt, arbeitet mit Kooperativen und privaten Partnern zusammen, die insgesamt rund eine Milliarde US-Dollar in die letzte Meile stecken müssen.
INTERVIEW
»Für viele Betriebe ein Muss«
Interview mit Guillermo Brinkmann. Der Geschäftsführer des Softwareherstellers SAP für Argentinien und die spanischsprachigen Nachbarländer und AHK-Präsident Argentinien, erklärt, wo das Land bei Digitalisierung und Industrie 4.0 steht.
Wie sieht es aus bei Digitalisierung und Industrie 4.0 in Argentinien?
Aus Argentinien kommen vier der weltweit wichtigsten Technologie-Start-ups mit einem Börsenwert von mehr als einer Milliarde US-Dollar: alle vier mit einem Blick, der über das Land und die Region hinausgeht. Die starke Verbreitung der Mobiltechnologie im Land hat viel damit zu tun. Dazu kommen Anreize durch staatliche Förderprogramme. Bei Industrie 4.0 steht Argentinien vor der Herausforderung, die Anwendung auf alle Sektoren auszudehnen. Bisher verläuft die digitale Transformation noch ziemlich heterogen.
Wo liegen die größten Chancen für die nächsten Jahre?
Das größte Tempo beobachten wir im Gesundheitswesen, im Finanzsektor, der öffentlichen Verwaltung, bei Energieversorgern, der Landwirtschaft, der Baubranche und dem Massenkonsum. Argentinien ist einer der wichtigsten Produzenten von Nahrungsmitteln, selbst ohne die Möglichkeiten der Technologie schon voll ausgeschöpft zu haben. Da liegt noch viel vor uns, aufgrund der guten Voraussetzungen des Landes und aufgrund der Chancen, die sich in der Welt für Argentinien bieten. Ähnliches gilt für die Dienstleistungen.
Inwiefern?
Argentinien hat sich auf der Basis verschiedener Faktoren gut positioniert, durch die neuen Technologien kann die Leistungsfähigkeit noch exponentiell wachsen. Die Digitalisierung hat viele traditionelle Wertschöpfungsketten völlig verändert. Das bietet Argentinien die Chancen, Geschäfte zu entwickeln, die dem Land bisher vorenthalten waren.
Was sind die größten Herausforderungen?
Die größte Herausforderung ist vielleicht der Kulturwandel. Die Menschen müssen sich bewusst werden, in welch einem historischen Moment wir uns befinden, und dass wir die Protagonisten sind. Auch die Umstellungen auf dem Arbeitsmarkt: Argentinien braucht mehr Fachleute, die Technologiebranche ist eine der wenigen, in denen Vollbeschäftigung herrscht. Jahr für Jahr braucht die Branche 5.000 zusätzliche Fachkräfte.
Haben die jüngsten Währungsturbulenzen das Tempo der Transformation verlangsamt?
Nein. Die digitale Transformation, diese vierte industrielle Revolution, liegt jenseits von vorübergehenden Turbulenzen. Investitionen in Technologie werden mit einem mittel- und langfristigen Horizont getätigt, da geht es um mehr Wettbewerbsfähigkeit, neue Geschäftsmodelle und neue Prozesse. Für viele Betriebe ist das ein Muss, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können.
Industrie 4.0 noch in den Kinderschuhen
Eine vernetzte Industrie 4.0 lässt noch auf sich warten. „Im globalen Vergleich ist Argentiniens Industrie bisher wenig automatisiert“, sagt Alberto Belluschi, Leiter von Festo für das spanischsprachige Südamerika. Auf 10.000 Industriearbeiter kommen in Argentinien gerade einmal 15 Roboter. In Deutschland sind es 300, in Argentiniens Nachbarländern Brasilien und Chile immerhin rund 90. Am stärksten automatisiert ist die Kfz-Industrie, zeigt eine Studie des argentinischen Wirtschaftsministeriums. Von 2010 bis 2016 importierte Argentinien rund 2.000 Industrieroboter. Wichtigste Lieferländer waren Japan (mit 26 Prozent Marktanteil), China (16) und Deutschland (15).
Doch die Arbeitskosten sind hoch, die einheimische Fertigung muss Exporte steigern und wettbewerbsfähiger werden. Die Unternehmen haben wieder Zugang zu ausländischen Krediten. All das werde dazu führen, dass Unternehmen perspektivisch die neuen Technologien nutzen, meint Belluschi. Ein Treiber könnten auch die steigenden Energiekosten der argentinischen Industrie sein. Big Data und Datenanalysen sollen die Effizienz erhöhen. „Das wird in den nächsten Jahren ohne Zweifel viel Interesse wecken“, so Belluschi.
Argentinien beginne bei Industrie 4.0 Boden gutzumachen, beobachtet auch Gaston Diaz Perez, Chef von Bosch am Rio de la Plata. Der Nachholbedarf sei riesig. „Die Technologie der Industrie ist im globalen Vergleich praktisch obsolet.“ In den Betrieben gebe es kaum Netzinfrastruktur. Chancen für entsprechende Anwendungen sieht Bosch in der Kfz-Industrie, der Nahrungsmittelproduktion, bei Pharma, Stahl und Bergbau.
Deutsche Unternehmen sind an der digitalen Transformation Argentiniens führend beteiligt – als Anwender wie Volkswagen, vor allem jedoch als Technologieanbieter wie Siemens, SAP, Bosch oder Festo. Der Spezialist für Steuerungstechnik Hydac hat in Argentinien ein Stahlwerk des brasilianischen Konzerns Gerdau mit Sensoren ausgerüstet. Von Sao Paulo aus können die Brasilianer damit jederzeit die Abläufe in Argentinien kontrollieren. Auch die Deutsch-Argentinische Industrie- und Handelskammer macht Industrie 4.0 und die digitale Transformation in diesem Jahr zu ihrem Schwerpunktthema, unter anderem bei den Deutsch-Argentinischen Wirtschaftstagen im August 2018 in Buenos Aires, wo deutsche Unternehmen vor Ort ihre digitalen Angebote vorstellen.
Ein großes Problem: Fachkräfte für die digitale Fabrik sind überall im Land knapp. Siemens kooperiert mit der Provinz Buenos Aires, um Techniker für die Digitalisierung mit dem Schwerpunkt Elektrizitätswirtschaft auszubilden. Volkswagen zieht in Zusammenarbeit mit der Nationalen Technischen Universität im Instituto Ferdinand Porsche den eigenen Nachwuchs heran. In unmittelbarer Nachbarschaft des Werks Pacheco studieren dort zurzeit fast 400 angehende Ingenieure und Techniker.
Bis das große Update der argentinischen Volkswirtschaft abgeschlossen ist, werden sie dringend gebraucht. Und danach dann sowieso.
SERVICE & KONTAKT
Mehr zum Markt lesen Sie in der GTAI-Publikation „Im Fokus: Argentinien hält Reformkurs“
Weitere Informationen zu Argentinien finden Sie auf der GTAI-Länderseite.
GTAI-Ansprechpartnerin Argentinien
Jenny Eberhardt
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