Ein Land kämpft sich durch
Wer in Brasilien Geschäfte macht – und das tun viele deutsche Unternehmen –, ist eigentlich krisenerprobt. Doch die Covid-19-Pandemie stellt die Wirtschaft vor nie da gewesene Herausforderungen. Zudem lässt Corona altbekannte Probleme umso deutlicher hervortreten.
Oktober 2020
Autorin: Gloria Rose
Spezialkräfte desinfizieren die 30 Meter hohe Statue Christus, der Erlöser auf dem Berg Corcovado in Rio de Janeiro. Wegen der Covid-19-Pandemie war sie seit Ende März für Besucher geschlossen gewesen – inzwischen ist das Areal wieder geöffnet. Brasilien verzeichnet nach den USA die meisten Coronatoten. ©picture alliance/ZUMA Press
Die Covid-19-Pandemie wirkt auf Brasilien wie ein Brennglas. Sie verstärkt vorhandene Missstände exponentiell, zudem verschärfen politische Konflikte um den umstrittenen Präsidenten Jair Bolsonaro die Lage.
Angesichts der unkontrollierten Ausbreitung des Coronavirus hat der internationale Währungsfonds seine Wachstumsprognose für Brasilien weiter herabgesetzt. Um 9,1 Prozent soll die Wirtschaftsleistung 2020 einbrechen. Selbst wenn das Bruttoinlandsprodukt nur um sechs Prozent sinkt, ist das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Brasilianer im vergangenen Jahrzehnt damit um mehr als fünf Prozent gefallen. Schließlich hat das Land zwischen 2014 und 2016 eine der schwersten Rezessionen seiner Geschichte durchgemacht.
Strategien
So reagieren Wirtschaft und Staat auf die Krise:
Schutz der Mitarbeiter: Verwaltung und Kundenservice im Homeoffice sowie zusätzliche Schichten in der Produktion
Verwaltungsfunktionen werden outgesourct, um Fixkosten zu reduzieren
Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen über Betriebsferien, Gleitzeit, Kurzarbeit oder das vorübergehende Aussetzen von Verträgen
Aufschub von Lohnnebenkosten, den der Staat auf Antrag gewährt
Liquiditätsmanagement mit besonderem Augenmerk auf den Wechselkurs
Liefer- und Absatzketten kommen auf den Prüfstand
Ausbau des Exportgeschäftes
Marketing durch soziales Engagement
Ohne durchschlagende Wirtschaftsreformen wird die Kaufkraft aus dem Jahr 2010 möglicherweise erst wieder 2028 erreicht. Ähnlich wie Südafrika und Argentinien verliert Brasilien damit international an Gewicht, da die meisten anderen Länder – allen voran China und Indien – ihr Pro-Kopf-Einkommen zwischen 2010 und 2030 erheblich steigern dürften.
Laut Prognosen der Weltbank wirft die Covid-19-Pandemie die Armutsbekämpfung in Lateinamerika insgesamt um zwei Jahrzehnte zurück. Die Vereinten Nationen warnen vor einer Verschärfung der bereits hohen Einkommensunterschiede und den damit einhergehenden Risiken für die Demokratie und die zivile Sicherheit. Die brasilianische Regierung begegnet der Abwärtsspirale mit Hilfszahlungen, die viele Haushalte der unteren Einkommensschichten vorübergehend tatsächlich bessergestellt haben. Die Hilfszahlungen tragen dazu bei, dass der Einbruch der Wirtschaftsleistung weniger stark ausfallen dürfte als von vielen internationalen Institutionen befürchtet.
Weitere Reformen sind nicht garantiert
Doch durch die zusätzlichen Staatsausgaben wachsen auch die Herausforderungen für die Politik. Seit 2016 verfolgt Brasilien einen wirtschaftsliberalen Reformkurs, der die relativ hohe Staatsverschuldung eindämmen und die Rahmenbedingungen für private Investoren verbessern soll. Erste Erfolge wie die Rentenreform haben den Grundstein für eine niedrige Inflation und Zinsen auf historischem Tiefstand gelegt. Konzessionierungen in der Infrastruktur stimulieren private Investitionen.
Cesár Gaitán, der das Lateinamerikageschäft für Festo (siehe Kasten unten) leitet, siehe rechts betont die positiven Aussichten in Brasilien, beispielsweise in der Wasserwirtschaft. Im Juli 2020 hat das Parlament den neuen Rechtsrahmen verabschiedet. Angesichts der politischen Krise bleiben aber Risiken. Das Wirtschaftsministerium gibt sich zwar zuversichtlich, im reformorientierten Kongress eine Mehrheit zur Fortsetzung des Reformkurses zu schaffen. Doch es bleiben nur etwa zwölf Monate, bis der Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl 2022 die politische Agenda dominieren wird. Dazu kommt die gravierende Gesundheitskrise: Nur in den USA sind bisher mehr Menschen an Covid-19 erkrankt und gestorben als in Brasilien.
Um die Wirtschaft zu stabilisieren, setzt Wirtschaftsminister Paulo Guedes vor allem auf den Erhalt von Arbeitsplätzen. Durch seine Maßnahmen zur Unterstützung von Unternehmen will er bisher schon rund zwölf Millionen Jobs gesichert haben. Das erkennen die Unternehmen durchaus an. „Im Unterschied zu den meisten Ländern Lateinamerikas reagierte Brasilien zeitnah und zielgerecht“, lobt etwa Michael Teschner, Brasilienchef für den Verpackungshersteller Multivac und Präsident des brasilianischen Büros des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau in São Paulo (siehe Kasten unten).
Quellen: GTAI, AHK Brasilien
Für Deutschland ist der Standort wichtig
Bereits im März hat die Regierung neue Instrumente zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse geschaffen, die auch Kurzarbeit und das vorübergehende Aussetzen der Beschäftigung ermöglichen. Für deutsche Unternehmen waren die Maßnahmen besonders wichtig. Brasilien gehört nämlich zu den Ländern mit den höchsten deutschen Investitionen außerhalb Europas. Zehn Prozent tragen Unternehmen mit deutschem Kapital zum industriellen Bruttoinlandsprodukt des Landes bei. VW, Bayer, Mercedes-Benz, BASF, MAN, Bosch, ZF und Siemens Gamesa zählen zu den 200 umsatzstärksten Konzernen Brasiliens. Sie sitzen zumeist im Bundesstaat São Paulo, dem größten deutschen Industriestandort außerhalb Deutschlands.
Deutsche Tochterunternehmen in Brasilien sind krisenerprobt. Viele haben sich in der vergangenen Rezession neu strukturiert und sind oft besser kapitalisiert als lokale Konkurrenten. In der weltweiten Krise können die Töchter jedoch nicht mehr uneingeschränkt auf Finanzhilfen der Mutterhäuser setzen. Umso bedeutender wird das Liquiditäts- und Fixkostenmanagement für sie.
Die Situation ist nicht so klar wie beschrieben.