August 2018
Autor: Oliver Döhne
Lautlos gleitet die „Vision of the Fjords“ durch den Naeröyfjord in Norwegen. Dessen Naturschönheit ist Unesco-Weltkulturerbe, und die norwegische Regierung wacht darüber, dass der Tourismus umweltschonend bleibt. Dank deutscher Technologie hat die Fähre die strengen Emissionsauflagen aber locker erfüllt. Statt Stahl und Aluminium kamen als Strukturbauteile der „Vision“ Carbonfasergelege der nordrhein-westfälischen Firma Saertex zum Einsatz. Weil das Schiff deshalb viel leichter ist als vergleichbare Fahrzeuge, reicht ein ressourcenschonender Hybridantrieb. Das 2018 vom Stapel gelaufene Nachfolgemodell „Future of the Fjords“ kommt ganz mit Elektromotor aus.
Nur eins von vielen Beispielen, wie sich eine klassische Industriebranche in schwierigen Zeiten selbst neu erfinden kann. Als die traditionelle deutsche Textil- und Bekleidungsproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg in Niedriglohnländer abwanderte, gelang es deutschen Forschern und Unternehmen, eine Reihe von Basisinnovationen zu entwickeln und schnell marktreif zu machen. So konnte sich die Branche in einem zukunftsprägenden Feld in vorderster Linie positionieren.
Die Textilbranche hat sich in schwierigen Zeiten mit Basisinnovationen neu erfunden.
Heute beliefern deutsche Branchenfirmen Zulieferer der Kfz-Industrie und des Flugzeugbaus, Möbelhersteller, Krankenhäuser und Bauindustrie und erzielten 2017 laut Gesamtverband Textil + Mode etwa 51,2 Prozent des Branchenumsatzes mit technischen Textilien, insgesamt rund 18 Milliarden Euro. Ins Ausland gingen 2017 laut Statistischem Bundesamt technische Textilien (Standard International Trade Classification 657) im Wert von 4,4 Milliarden Euro. Größte Konkurrenten sind China, die USA, Italien, Südkorea und Japan.
Der Innovationsschub sorgte nicht nur für eine Zurückverlagerung von Arbeitsplätzen nach Deutschland und ein leichtes Umsatzplus der gebeutelten Textilbranche, sondern stieß zudem die Tür auf für eine neue Generation von Werkstoffen. Diese bieten neben vielen anderen Qualitäten die Möglichkeit, intelligente Fasern in Baustoffe zu integrieren, wodurch sie bestens ins Digitalisierungszeitalter passen. „Textil formt unsere moderne Welt“, sagt Ingeborg Neumann, Unternehmerin und Präsidentin des Gesamtverbands Textil + Mode.
Schon heute sind technische Textilien ein wichtiger Bestandteil von Autos und Flugzeugen. In einem modernen Verkehrsflugzeug bestehen große Teile der Flügelschalen, Rumpfteile und Leitwerke aus leichten und feuerfesten Verbundmaterialien, Mischungen von Carbonfasern und Kunststoffen. In einem durchschnittlichen Pkw befinden sich mindestens 35 Kilogramm Fasern, Vliese und Gewebe, unter anderem in Airbags, Reifen und Stoßstangen. Aber auch andere Branchen schauen sehr interessiert auf die Vorstöße der Textilforscher.
Außenhaut der neuen Bosporus-Brücke in Istanbul. Dank des Textilbetons der schwäbischen Firma Solidian konnten die Architekten beim Bau der Brücke Gewicht einsparen. © picture alliance/AP Photo, Fibrobeton
Foto Startseite: © Sverre Hjørnevik Photography
Die Leichtigkeit des Bauens
Ähnlich wie beim Bau der „Vision of the Fjords“ können Textilfasern auch im Gebäude- und Infrastrukturbau Aluminium- oder Stahlbewehrungen ersetzen. Da sie nicht rosten, ist wesentlich weniger Zement nötig, was dünnere, leichtere und trotzdem feste Bauteile ermöglicht. Das reduziert den CO2-Ausstoß und verlängert die Lebenszeit der Bauten. Immer häufiger ersetzen carbonfaserverstärkte Bauteile sogar den Trägerstahl. Leuchtturmprojekt ist eine etwa 100 Meter lange Textilbetonbrücke des Unternehmens Groz-Beckert in Albstadt-Ebingen. Auch in Dächern zeigen Vliesstoffe aus chemischen Fasern, was sie können: Sie wirken wärmedämmend und sperren Feuchtigkeit aus. Anders als bei herkömmlichen Dächern lassen sie aber dennoch Luft durch. Das macht die Gebäude resistenter gegen Schimmel.
Aufgrund ihrer großen Flexibilität erlauben textile Verbundstoffe Architekten eine ganz neue Freiheit im Gebäudedesign. Ein Beispiel sind die an biologischen Strukturen orientierten Bauten des Architekten Achim Menges, die computermodelliert von Robotern aus Fasern gewoben werden. Flexible Faserstoffe revolutionierten auch Rohrsanierungsarbeiten. Statt ein brüchiges Rohr aufwendig auszugraben, ziehen Spezialisten wie die Rainer Kiel Kanalsanierung GmbH aus Blomberg einen harzgetränkten und wasserdicht beschichteten Textilschlauch ein, blasen ihn auf und lassen ihn zu einem neuen, „inneren“ Rohr aushärten. Geotextilien stabilisieren Uferhänge, Straßen- und Eisenbahnfundamente, verstärkten Asphalt, Dämme und Mauern, entwässern Schlämme und ermöglichen eine keimfreie Wasseraufbereitung.
In der Hygiene- und Medizintechnik sind technische Textilien nicht nur bei bewährten Anwendungen vom Wundpflaster bis zur Inkontinenzwindel gefragt, sondern öffnen auch zukünftige Felder wie Textilimplantate, die sich selbst auflösen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, zum Beispiel Stents in der Koronarmedizin, textile Kreuzbänder, Herzklappen, Bandscheiben und künstliche Arterien oder Venen.
Chancencheck
Geniale Gewebe – Hier kommen technische Textilien aus Deutschland im Ausland zum Einsatz:
Brückenpfeiler mit Textilbeton
Für die Pfeiler der Bosporus-Brücke in Istanbul nutzten die Konstrukteure Vorhangfassaden mit Bewehrungen des Albstädter Textilbetonspezialisten Solidian. Auf diese Weise konnten sie die strengen Gewichtsvorgaben erfüllen.
Fassaden aus Membranen
In Katar haben Experten für Membranbau der Hightex GmbH aus dem bayerischen Rimsting Dach und Fassade des Al-Bayt-Stadions gestaltet, eines der Spielorte der Fußballweltmeisterschaft 2022.
Schiff aus Stoffgelegen
In Norwegen entwickelte die nordrhein-westfälische Firma Saertex gemeinsam mit Partnern das fast vollständig aus Carbon bestehende Sightseeingschiff „Vision of the Fjords“. Es ist bis zu 50 Prozent leichter als herkömmliche Fähren. Bild auf Seite 30
Neue Rohre aus Schläuchen
In Bahrain sanierte die Rainer Kiel Kanalsanierung GmbH aus Blomberg Kanalleitungen der Raffinerie Bahrain Petroleum Company B. S. C. Durch den Einsatz des Schlauchliningverfahrens dauerte das nur wenige Tage.
Windeln für alle Fälle
In Spanien und Portugal expandiert die Heidenheimer Hartmann-Gruppe bei Inkontinenzprodukten für die alternde Gesellschaft und übernahm 2017 den lokalen Player Lindor. 2017 erzielte Hartmann 66,5 Prozent des Umsatzes im Ausland.
Smarte Textilien messen Blutdruck
Spektakulärstes Feature technischer Textilien ist die Möglichkeit, einstmals starre Materialien intelligent zu machen, indem in die Werkstoffe leitfähige, smarte Fäden eingewoben werden. Das ist etwa für den medizinischen Bereich und die Seniorenbetreuung nützlich in Form von Monitoring-, Therapielösungen und Assistenzsystemen. Kluge Kleidung misst Puls und Blutdruck, heizt bei Kälte und übermittelt Daten an Arzt oder Krankenhaus. Die Automobilbranche setzt zunehmend auf gestickte Schalter sowie be- und gedruckte textile Leuchtflächen.
Am Bau registrieren smarte Textilien Feuchtigkeit und Schimmel und warnen vor sich bildenden Rissen. Windräder lassen sich schnell aus einer Überbelastung herausnehmen und ideal in den Wind stellen, bevor es zu Schäden kommt. Je größer die Räder werden, desto wichtiger wird die kontinuierliche Information über Wirkungsgrad und Zustand. Dabei geht der Trend von momentan noch aufgeklebten faseroptischen Sensoren zur Integration der Sensoren in die Bauteile, um so möglichst vollständige Informationen zu bekommen.
Laut Gesamtverband Textil + Mode setzt der Markt für sogenannte smarte Textilien weltweit rund 1,3 Milliarden Euro um. Das globale Marktvolumen könnte bis zum Jahr 2022 auf knapp fünf Milliarden Euro wachsen, wobei auf den deutschen Markt dabei etwa 700 Millionen Euro entfallen dürften. Für 2030 wird allein für Deutschland ein potenzielles Marktvolumen von 4,2 Milliarden Euro vorhergesagt.
Konkrete Geschäftsmodelle fehlen
Trotz der vielversprechenden Aussichten gibt es auch Herausforderungen. Die neuen Materialien sind bisher verhältnismäßig teuer, noch längst nicht alle sind zugelassen. Intelligente Fasern benötigen Strom. Es fehlen Konzepte, smarte Textilien sowohl in großen Serien als auch in kleinen Stückzahlen effizient und flexibel herzustellen. Auch konkrete Geschäftsmodelle für die digitalen Gewebe lassen noch auf sich warten. Die Branche blickt dennoch zuversichtlich in die Zukunft: Sie hat schon einmal bewiesen, wie einfallsreich sie sein kann.
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