Ein Schiff wird kommen

Regierungen und Unternehmen in der EU suchen fieberhaft nach Alternativen zu den gewohnten Öl- und Gaslieferungen aus Russland. So entsteht eine vollkommen neue Energiearchitektur – im Schnelldurchlauf.

August 2022
Autor: Hans-Jürgen Wittmann

© Suriyapong Thongsawang/Getty Images

Die Firma Radici Chimica Deutschland GmbH im Chemie- und Industriepark Zeitz in ­Sachsen-Anhalt braucht Erdgas – und zwar jede Menge. 100 Megawattstunden pro Jahr nutzt das Unternehmen, um Vorprodukte für Kunststoff herzustellen. Damit lassen sich 5.000 Einfamilienhäuser heizen und mit Warmwasser versorgen, hat Werkleiter Jens Metzner kürzlich in einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) vorgerechnet. Käme kein Gas mehr aus der Leitung, Metzner müsste die Produktion stoppen. „Die Rohstoffe Ammoniak und Wasserstoff, ­welche wir von lokalen Lieferanten beziehen, basieren ebenfalls auf Erdgas“, sagte er dem MDR.

Russlands Aggression gegen die ­Ukraine stellt den Westen vor enorme wirtschaftliche Herausforderungen. Auf dem ganzen Kontinent suchen Unternehmen und Regierungen fieberhaft nach Alternativen zu russischem Öl und Gas. Aktuell profitiert der Kreml sogar von den Rekordpreisen, weil die meisten Europäer keine Alternative haben. Kurz nach Kriegsbeginn Ende Februar kostete die Megawattstunde Gas 215 Euro. Nachdem die Europäische Union (EU) Ende Mai ein Embargo auf russisches Öl verhängt hatte, kletterte die Sorte Brent auf ein Zweimonatshoch von 123 US-Dollar pro Barrel. Europäische Abnehmer überweisen pro Tag rund 500 Millionen Euro für russisches Öl und knapp 300 Millionen Euro für Erdgas nach Moskau.

Die EU will die wichtige Rohstoffeinnahmequelle des Kreml kappen und macht Tempo beim Umbau der Energiemärkte. Mit dem Plan Repower EU will der Staatenbund bis 2030 komplett unabhängig von fossilen Brennstoffen aus Russland werden. Zugleich möchte die EU den Umstieg auf grüne Energien beschleunigen. Mit dem 300 Milliarden Euro schweren Plan will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen „für den europäischen Green Deal den Turbo zünden“. Der Anteil erneuerbarer Energien soll auf 45 Prozent wachsen, 600 Gigawatt Solaranlagen sollen installiert werden. Für Gewerbe und öffentliche Gebäude sollen Solaranlagen ab 2026 Pflicht werden, für neue Eigenheime ab 2029. Und: Verbraucher sind dazu angehalten, wo immer möglich Energie zu sparen.

Industrie fürchtet Lieferstopp

Der Ukrainekrieg rüttelt eben an den Jahrzehnte alten Glaubenssätzen der deutschen Russlandlobby, das größte Flächenland sei ein zuverlässiger Lieferant und würde Energie nicht als Waffe einsetzen. Längst fürchtet die Industrie das Schlimmste. „Ein kurzfristiger und unbefristeter Lieferstopp hätte spätestens im Herbst massive negative Auswirkungen nicht nur auf die chemisch-pharmazeutische Industrie, sondern auf das gesamte Produktionsnetzwerk des Landes“, sagte jüngst Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie, in einem Interview.

Im Jahr 2021 deckte Russland 35 Prozent des deutschen Ölverbrauchs ab, beim Gas betrug die Abhängigkeit sogar 55 Prozent. Seit Kriegsbeginn hat Deutschland das auf zwölf Prozent beim Öl und 35 Prozent bei Gas gedrückt, meldet Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck. Die Bundesrepublik ist also bereits dabei, von Energieimporten aus Russland unabhängig zu werden. Bei Kohle soll es im Herbst 2022 so weit sein, bei Erdöl zum Jahresende, das hat Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos erklärt. Beim Gas wird der Umstieg bis 2024 dauern, denn vor allem in der Chemie- und Glasindustrie sowie bei der Produktion von Düngemitteln ist der Rohstoff derzeit einfach zu wichtig.

»RUSSLAND IST KEIN ZUVERLÄSSIGER PARTNER MEHR.«

Ursula von der Leyen,
Präsidentin der Europäischen Kommission

Russland ist der drittgrößte Ölproduzent, hinter den USA und Saudi-Arabien. Es produziert zwölf Prozent der weltweit geförderten Menge. Bei den Ölreserven liegt Russland auf Platz sechs, hinter ­Venezuela, Saudi-Arabien, Kanada, Iran und Irak. Und fast die Hälfte der russischen Ölexporte ging bisher nach Europa: Im Jahr 2021 waren es 105 Millionen ­Tonnen im Wert von rund 71 Milliarden Euro.

Damit soll nun Schluss sein. Das sechste Sanktionspaket der EU von Ende Mai 2022 sieht ein Teilembargo vor. In den kommenden sechs Monaten wollen die Mitgliedstaaten die Importe von Rohöl einstellen und nach acht Monaten die Einfuhren von Ölprodukten. Betroffen sind Einfuhren auf dem Seeweg, die etwa zwei Drittel der europäischen Importe ausmachen. Auf Drängen Ungarns sind Lieferungen über die Pipeline Druschba (Freundschaft) vorerst ausgenommen. Doch Deutschland und Polen, die vom nördlichen Strang dieser Pipeline versorgt werden, haben angekündigt, bis Jahresende den Bezug von russischem Öl ganz einzustellen. Damit unterliegen rund 90 Prozent der russischen Importe dem Embargo. Die italienische Ölfirma Eni und ihr spanisches Pendant Repsol wollen nun Rohöl aus Venezuela beziehen. Die USA, die eigentlich Sanktionen gegen Venezuela verhängt haben, haben bereits zugestimmt.