Die Welt steigt aufs Rad

Kaum eine andere Branche erlebt derzeit einen solchen Boom wie die Fahrrad­industrie. Auch Länder, in denen Fahrradfahrer bislang kaum zum Straßenbild gehörten, sind mit dabei. Die Absatzchancen sind immens.

Dezember 2021
Autorin: Jenny Eberhardt

Die Stadtautobahn der indonesischen Metropole Jakarta: Wo sich werktags die Autos stauen, haben Fahrradfahrer die Straße am Wochenende von fünf bis acht Uhr morgens für sich. © Henrik Sorensen/NurPhoto/Getty Images

Hansdampf ist den meisten von uns vor allem durch die Redewendung „Hansdampf in allen Gassen“ ein Begriff. Gemeint ist jemand, der ständig überall ist, dem man sinnbildlich in jeder Gasse begegnet. Wer sich aktuell durch den chaotischen Straßenverkehr in der indonesischen Hauptstadt Jakarta bewegt, dem dämmert, warum die Fahrradreifen der nordrhein-westfälischen Marke Schwalbe denselben Namen tragen: Seit Ausbruch der Coronapandemie sind die Indonesier aufs Fahrrad gekommen.

Wo normalerweise Autos dominieren, tummeln sich nun neu gegründete Bike-to-Work-Communities sowie Tages- und Nachtausflügler auf Zweirädern aller Couleur. Eine 180-Grad-Wende, denn Radfahren hat keine Tradition im modernen Indonesien. In der statusgeprägten Gesellschaft des Archipels war es noch bis vor Kurzem eine mitleidig beäugte Betätigung der Armen und Rückständigen. Doch seit die Menschen aufgefordert sind, von zu Hause aus zu arbeiten, wird der frei gewordene Platz auf den ansonsten chronisch verstopften Straßen plötzlich von Fahrradfahrern beansprucht.

Mit dem Aufstieg des Fahrrads zum Life­styleartikel hat auch der Markt an hochwertigen Teilen und Luxusaccessoires an Bedeutung gewonnen. Sie werden in Fachgeschäften, auf Onlineplattformen und am Straßenrand feilgeboten. Das Reifenmodell „Hans Dampf“ von Schwalbe gehört dabei zu den meistgehandelten Artikeln.

Ähnliche Szenarien lassen sich auch in anderen Weltregionen beobachten: In Polen stiegen 2020 viele Menschen vom öffentlichen Nahverkehr aufs Fahrrad um – aus Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19. In Argentinien war die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel über Monate nur den Beschäftigten essenzieller Wirtschaftszweige erlaubt. Die Nachfrage nach Fahrrädern stieg daraufhin sprunghaft an und bescherte der Branche dreimal so hohe Absätze wie im Vorjahr. Und selbst in Ghana und Tunesien, wo Fahrradfahren noch in den Kinderschuhen steckt, mehren sich Fahrradverleihe, Bikesharing-Systeme und Radklubs.