November 2018
Autorin: Corinne Abele
Die chinesische Stadt Taicang war deutschen Unternehmen jahrelang ein Begriff, in China kannte dagegen kaum jemand den Ort. Rund 250 deutsche Firmen haben sich dort, 50 Kilometer nordwestlich von Shanghai, angesiedelt. Damit ist Taicang zum Zentrum des deutschen Mittelstands geworden. Alles fing mit Kern-Liebers vor genau 25 Jahren an.
„Mit neun Leuten haben wir 1993 begonnen“, erinnert sich Richard Zhang, CEO der Taicanger Tochter des Industriezulieferers Kern-Liebers aus dem baden-württembergischen Schramberg-Sulgen. Heute arbeiten am chinesischen Hauptsitz in Taicang 1.300 Leute. Der damalige Vorsitzende von Kern-Liebers, Hans-Jochem Steim, suchte auf Grundlage der Partnerschaften zwischen Baden-Württemberg und den Provinzen Jiangsu und Liaoning einen geeigneten Standort für einen Markteintritt in China, was Anfang der 1990er-Jahre nicht risikolos war. Beschaulich sollte er sein, kostengünstig und gut erreichbar. In unmittelbarer Nähe zu Shanghai und dem internationalen Flughafen – wichtig für Logistik und Expats – erfüllte Taicang alle Anforderungen des schwäbischen Familienunternehmens.
Während anderswo in China ausländische Unternehmen nur etwas galten, wenn sie auf der Forbes-Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt standen, kümmerte sich die Taicanger Verwaltung um schwäbische Mittelständler, ob sie nun in der Textilindustrie, im Maschinenbau oder der Kfz-Zulieferung tätig waren. Die wiederum dankten es der Stadt, beispielsweise durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf den jährlichen Taicang-Tagen, die zunächst in Baden-Württemberg und später auch in anderen Bundesländern stattfanden. Die chinesische Stadt mit 700.000 Einwohnern konnte so ihren Ruf als Standort für kleine und mittlere Unternehmen festigen.
Noch vor zwei oder drei Jahren, erzählt Richard Zhang, sei Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Erwähnung von Taicang beim chinesischen Premierminister Li Keqiang auf Unkenntnis gestoßen. Inzwischen schickt selbst die südwestchinesische Provinz Guizhou Verwaltungsdelegationen nach Taicang, um von dem Erfolgsmodell zu lernen. „In Taicang gibt es einen guten Service, kurze Wege und einen direkten Zugang zu den Behörden“, sagt Johanna Spee, Regionalmanagerin der Deutschen Auslandshandelskammer (AHK) Ostchina. Das seien wichtige Erfolgsfaktoren. Vor allem aber gebe es die Möglichkeit, am Standort wachsen zu können. Das haben nicht nur Kern-Liebers, Schaeffler oder Trumpf getan.
Einwohner zählt Taicang. Für chinesische Verhältnisse eine Kleinstadt. In Shanghai leben 24 Millionen Menschen.
Wirtschaftswachstum verzeichnete Taicang im Jahr 2017 – auch dank deutscher Unternehmen.
Planbares Abenteuer China
Die Chemie zwischen der effizient und pragmatisch agierenden Verwaltung und den bodenständigen Mittelständlern stimmt bis heute. Vor zwölf Jahren gründeten Letztere den sogenannten Taicang Roundtable (TRT). Derzeit hat er 84 Mitglieder, davon 82 deutsche Unternehmen. Zu seinen monatlichen Treffen lädt TRT-Vorsitzender Zhang nicht nur seine Mitglieder, sondern auch Verwaltungsabteilungen der Stadt und der sogenannten Taicang Economic Development Area (TEDA) ein, um mehr über ihre Arbeit und Pläne zu erfahren.
Behörden und deutsche Unternehmen sind in Taicang kontinuierlich im Gespräch, und nicht erst, wenn es brennt. Damit hilft der Standort den Mittelständlern, das Abenteuer China überschau- und planbarer zu halten. „Wir erklären den Behörden unsere Probleme, und sie kümmern sich darum, als ob es ihre eigenen wären“, erklärt Kern-Liebers’ Geschäftsführer Zhang. Bis zur Provinzregierung in Nanjing und selbst nach Beijing habe die Verwaltung die Unternehmen bereits begleitet und unterstützt.
»Die Behörden kümmern sich um unsere Probleme wie um ihre eigenen.«
Richard Zhang,
CEO von Kern-Liebers Taicang
Diese Zusammenarbeit zwischen Taicanger Verwaltung und deutschem Mittelstand macht Projekte möglich, die weit über das jährliche Oktoberfest oder die regelmäßigen Fußballturniere hinausgehen. Die Inclusion Factory ist so ein herausragendes Projekt und bisher landesweit das einzige seiner Art. Sie bietet etwa 30 Menschen mit körperlicher, aber vor allem auch geistiger Behinderung einen Arbeitsplatz mit marktüblichem Gehalt. Sie arbeiten in einer ebenerdigen Werkshalle, die die TEDA-Verwaltung kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Getragen wird die Initiative bislang vor allem durch den Roundtable und seine Firmen. „Ohne die Verwaltung wäre ein solches Projekt undenkbar“, betont Zhang.
Auch der deutsch-chinesische Freundschaftskindergarten Taicang für den Nachwuchs der Mitarbeiter deutscher Unternehmen vor Ort geht auf Eigeninitiative zurück. Bemühungen um die Ansiedlung einer deutschen Grundschule blieben bislang erfolglos – aber wer weiß, was noch kommt.
Beim sogenannten Taicang Roundtable treffen sich regelmäßig 82 deutsche Unternehmen. Nicht immer geht es nur um Geschäftliches: Das jährliche Oktoberfest sorgt für heimatliche Gefühle und bringt die Kulturen zusammen. © Wang Xueting
Ausbildung nach deutschen Standards
Die Ausbildung der Arbeitnehmer vor Ort haben die Mittelständler hingegen bereits in Angriff genommen. Das überbetriebliche duale Ausbildungssystem haben im Jahr 2001 Kern-Liebers, die Fischer Gruppe, die Taicanger Regierung sowie die Berufsschule Taicang gegründet, angeschoben mit rund einer viertel Million Euro des Wirtschaftsministeriums in Baden-Württemberg. Seither werden in Taicang Werkzeugmacher sowie Industrie- und Zerspanungsmechaniker ausgebildet; 2007 kam das AHK Shanghai/Chien-Shiung-Ausbildungszentrum hinzu. Und seit 2018 bauen Kern-Liebers und weitere Firmen des TRT mit Unterstützung der AHK Shanghai eine Meisterschule auf. Damit die deutschen Unternehmen vor Ort sich nicht gegenseitig die Mitarbeiter mit unlauteren Methoden streitig machen, hat der TRT mit Unterstützung der AHK ein sogenanntes Gentlemen’s Agreement ins Leben gerufen. Darin verpflichten sich die Unternehmen, sich nicht mit unlauteren Methoden gegenseitig Personal abzuwerben und vor einem Wechsel die jeweils andere Personalabteilung zu informieren. Die Unterzeichnung ist freiwillig, bei Problemen spricht man miteinander.
Trotz wachsender Konkurrenz durch neue Industriezonen steht Taicang nach wie vor hoch in der Gunst des deutschen Mittelstands. Allerdings steigen auch hier die Land- und Arbeitskosten, außerdem gibt es immer mehr Umweltauflagen. Einfache Produktionsunternehmen sind daher nicht mehr so gern gesehen. Gefragt sind namhafte Kfz-Zulieferer, Hochtechnologiefirmen oder Dienstleister. „Für Firmen der Umwelttechnik wird es immer interessanter“, sagt Matthias Müller, Leiter des German Centre Taicang, das inzwischen neben der Außenstelle der AHK Ostchina die deutsche Infrastruktur in Taicang ergänzt. Nach wie vor, so ist aus der Taicanger Verwaltung zu hören, sollen jährlich 15 bis 20 neue deutsche Unternehmen hinzukommen, darunter viele Dienstleister.
„Taicang bleibt die Benchmark, an der sich neue Industriezonen messen lassen müssen“, betont Richard Zhang von Kern-Liebers. Gleichzeitig arbeitet der Standort daran, seiner Vorbildfunktion gerecht zu werden. So wird er Ende 2019 durch eine Bahnstrecke von Shanghais Bezirk Anting über Taicang nach Nantong noch enger an die Metropole heranrücken und die bislang stark von der Verkehrslage abhängende Fahrtzeit kalkulierbarer machen. Und auch der Roundtable und örtliche Behörden planen ein neues gemeinsames Projekt: eine Website, auf der aktuell und transparent alle Regelungen und Vorschriften der verschiedenen Regierungsabteilungen eingesehen werden können. Der Vorschlag für das Portal stammt vom Roundtable, das Geld dafür will die Stadtverwaltung beisteuern. Wenn alles gut geht, ist die Website bereits Ende 2018 online.
Fünf aus 250 – Deutsche Unternehmen in Taicang
Kern-Liebers
Mit der Gründung eines Tochterunternehmens des Industriezulieferers Kern-Liebers aus Schramberg-Sulgen 1993 in Taicang fing alles an. In China erwirtschaftet das Unternehmen inzwischen rund 100 Millionen Euro Umsatz – damit gehört der Markt für Kern-Liebers zu den wichtigsten weltweit.
Mubea Unternehmensgruppe
Die Chinazentrale des Automobilzulieferers mit Schwerpunkt für Feder- und andere verwandte Produkte im Leichtbau gründete im März 2004 sein erstes Tochterunternehmen in China in Taicang. Heute verfügt das Unternehmen über fünf Werke an drei Standorten in China. Seine Chinazentrale bleibt Taicang.
Zollner
Der Systemdienstleister für Electronic Manufacturing Services hat sich 2004 in Taicang niedergelassen, bisher sein einziges Werk in Festlandchina. Insgesamt zählt das Familienunternehmen 19 Standorte, unter anderem in Tunesien, den USA und Hongkong, und beschäftigt weltweit 11.000 Mitarbeiter.
Schaeffler
Der börsennotierte Zulieferer für die Automobilbranche und den Maschinenbau aus Herzogenaurach produziert seit 1993 in Taicang und zählt zu den größten ausländischen Investoren vor Ort. Weltweit betreibt Schaeffler 170 Standorte und beschäftigt 92.000 Mitarbeiter.
Trumpf
Der Maschinenbauer ist seit 2003 in Taicang präsent und führte dort 2009 drei Fertigungsstätten sowie ein Schulungszentrum an einem Standort zusammen. Das Unternehmen ist Marktführer bei Werkzeugmaschinen und Lasern für die industrielle Fertigung.
Service & Kontakt
GTAI-Ansprechpartnerin für China
Christina Otte
Tel. +49 228 24993 323
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