Juni 2019
Autor: Niklas Becker
Der slowakische Ministerpräsident Peter Pellegrini mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Anfang Februar traf sich die Kanzlerin mit Vertretern der Visegrád-Gruppe zum Deutschlandgipfel in Bratislava. © picture alliance/NurPhoto
Die Kirchhoff Gruppe ist spezialisiert auf Metallumformung, sie stellt Leichtbauteile für die Automobilindustrie her – und das weltweit. In Deutschland stehen zwei ihrer 30 Werke – in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn acht. Die vier Staaten der Visegrád-Gruppe – auch V4 genannt, sind für Kirchhoff eine der wichtigsten Weltregionen überhaupt: Gerade baut Kirchhoff seine polnischen Standorte Danzig und Mielec aus. „Neben der Markterschließung waren für uns die Arbeitskräfteverfügbarkeit sowie die Standort- und Logistikkosten entscheidend“, sagt Geschäftsführer Arndt Kirchhoff.
Schon im Jahr 1991 haben Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei die Visegrád-Gruppe gegründet. Sie wollten ihre Interessen gemeinsam vertreten, seit dem Beitritt der vier Länder zur Europäischen Union (EU) im Jahr 2004 vor allem gegenüber den anderen Mitgliedstaaten. Die V4 gilt als starker Zusammenschluss innerhalb der EU, auch wenn die vier Staaten nicht immer als einheitlicher Block auftreten. Insbesondere der politische Kurs in Ungarn und Polen verunsichert die Slowakei und Tschechien zunehmend. In jüngster Vergangenheit sorgten die vier Staaten vor allem mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der EU-Flüchtlingspolitik für Schlagzeilen und Unmut.
Niklas Becker
GTAI-Korrespondent Polen
Polens Wirtschaft hat spätestens seit dem EU-Beitritt eine besonders dynamische Entwicklung genommen. Allein 2018 stieg das Bruttoinlandsprodukt um 5,1 Prozent. Zwar spielt auch in Polen die Automobilbranche eine wichtige Rolle, im Vergleich zu den anderen V4-Ländern ist die Wirtschaft allerdings diversifizierter. Die Ausweitung der Sonderwirtschaftszonen 2018 hat neue Anreize für ausländische Investoren geschaffen. Auch als Absatzmarkt bietet Polen als einwohnerstärkstes Land der V4-Region viele Möglichkeiten.
Wirtschaftsboom auch dank EU-Geld
Die ökonomische Entwicklung der V4 gilt als Vorzeigeprojekt innerhalb Europas. Seit dem Beitritt zur EU hat sich das Bruttoinlandsprodukt dieser Staaten mehr als verdoppelt. Europäische Fördermittel haben entscheidend dazu beigetragen. Allein in der aktuellen Förderperiode stehen den Ländern rund 150 Milliarden Euro zur Verfügung. Für die neue Periode ab 2021 könnte sich das allerdings ändern. Weil sich die Region wirtschaftlich so gut entwickelt, sieht ein erster Entwurf der Europäischen Kommission erheblich weniger Fördergelder für die vier Länder vor.
Als Handelspartner Deutschlands gewinnt die Gruppe seit ihrer Gründung jedes Jahr an Bedeutung. 2018 erreichte der Handel zwischen Deutschland und der V4 ein Volumen von fast 293 Milliarden Euro. Das war gut eineinhalbmal so viel wie der Umsatz mit dem größten Handelspartner China. Die Staaten der V4 machten damit mehr als zwölf Prozent des deutschen Außenhandels aus. Im Vergleich zum Gründungsjahr ist der Warenaustausch heute mehr als 16 Mal so groß. Vor allem der EU-Beitritt der vier Länder hat eine besondere Dynamik der Handelsbeziehungen ausgelöst.
Wolfgang Heuchel, Geschäftsführer von Lanxess in Mittel- und Osteuropa bemerkt auch weiterhin einen Anstieg der wirtschaftlichen Bedeutung der Visegrád-Region. „In den vergangenen zehn Jahren haben wir unseren Umsatz in den V4-Ländern um mehr als 50 Prozent auf rund 250 Millionen Euro gesteigert“, berichtet der Manager. Er appelliert an die Bundesregierung, den Staaten der V4 in Zukunft die ihnen angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Waldemar Lichter
GTAI-Korrespondent Ungarn
Ungarns Wirtschaft gehört seit Jahren zu den am schnellsten wachsenden in der EU. Die dynamische Entwicklung, die stark steigende Binnennachfrage und Investitionen werden auch in den nächsten Jahren gute Exportchancen für deutsche Unternehmen bieten. Ungarn ist aber auch als Produktionsstandort hoch attraktiv. Die Steuern sind niedrig, die Infrastruktur ist gut ausgebaut, die Lohnkosten sind immer noch wettbewerbsfähig, und die Wirtschaftspolitik ist investitions- und innovationsfreundlich.
Eine Million Arbeitsplätze geschaffen
Ein entscheidender Grund für den regen Warenaustausch sind die Aktivitäten deutscher Unternehmen in der Region. Die Länder der V4 gehören zu den wichtigsten Produktionsstandorten deutscher Firmen. Bis Ende 2016 hatten deutsche Unternehmen nach Bundesbankangaben rund 84 Milliarden Euro in den Visegrád-Staaten investiert. Firmen aus Deutschland beschäftigen rund eine Million Mitarbeiter in der Region. Die Automobilbranche ist besonders stark vertreten, außerdem Chemieunternehmen sowie Produzenten von elektronischem Equipment und die Maschinenbauer.
Mehrere Unternehmen aus dem Automobilsektor haben jüngst angekündigt, weiter in den V4-Staaten zu investieren. Das dürfte die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Visegrád-Gruppe weiter vertiefen. Dabei schätzen die Investoren neben der Produktivität und Motivation der Arbeitnehmer die geografische Nähe der Länder zu Deutschland. Auch die kurzen Wege innerhalb der V4 gelten als Pluspunkt. Die Infrastruktur der Region ist bereits gut ausgebaut und verbessert sich stetig weiter. Das macht Just-in-time-Lieferungen nach Deutschland sowie innerhalb der Länder möglich.
Mehr als eine verlängerte Werkbank
Viele einheimische Firmen aus der Visegrád-Region sind eng in die Wertschöpfungsketten deutscher Unternehmen eingebunden. „V4-Unternehmen nehmen dabei immer höhere Aufgaben in der Wertschöpfungskette wahr“, sagt Michael Kern, Hauptgeschäftsführer der AHK Polen. Einfach nur eine verlängerte Werkbank deutscher Unternehmen sei die V4 schon lange nicht mehr.
Dass die Region sich weiterentwickelt, schwächt allerdings auch einen ihrer wichtigsten Standortvorteile. Noch zählen die Löhne dort zu den niedrigsten innerhalb der EU. Doch das Lohngefälle gegenüber Deutschland schwindet, und so verliert dieser Faktor an Bedeutung. Auch für die kommenden Jahre werden kräftige Lohnzuwächse in den Ländern der V4 prognostiziert.
Die gute wirtschaftliche Entwicklung der V4 spiegelt sich eben auch auf dem Arbeitsmarkt wider. Im Jahr 2018 lag die V4-Arbeitslosenquote im Durchschnitt bei rund vier Prozent – zum Vergleich: In der EU liegt der Wert bei durchschnittlich sieben Prozent. Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt stellt die Unternehmen in den Ländern allerdings vor große Herausforderungen. Immer mehr Firmen in der Region berichten von Problemen bei der Personalbeschaffung.
Dem wollen die V4-Regierungen unter anderem durch die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte entgegenwirken. Besonders Beschäftigte aus der Ukraine sollen die Lücken auf dem Arbeitsmarkt schließen. Allein in Polen sind heute bereits 1,2 Millionen Ukrainer beschäftigt. Neu eingeführte Sozialleistungen sollen zudem die Geburtenrate in Polen und Ungarn wieder nach oben treiben.
Miriam Neubert
GTAI-Korrespondentin Tschechien und Slowakei
Ein sehr hoher Industrialisierungsgrad und enge Wirtschaftsbeziehungen machen die Tschechische Republik zum zehntwichtigsten Außenhandelspartner Deutschlands. Das Wirtschaftswachstum bleibt mittelfristig deutlich über dem EU-Schnitt, ist aber abhängig von der Entwicklung in Deutschland und der hiesigen Autoindustrie. Mit zwei Prozent Arbeitslosigkeit herrschte Ende 2018 praktisch Vollbeschäftigung. Um die Produktion zu steigern, müssen Unternehmen verstärkt automatisieren und digitalisieren.
Mit dem Euro besitzt die Slowakei für Exporteure und Investoren einen Vorteil gegenüber den anderen V4-Ländern: Wechselkursrisiken entfallen. Deutsche Hersteller exportieren in die Slowakei mehr als etwa nach Indien oder Brasilien. Zwar ist der Binnenmarkt mit 5,4 Millionen Einwohnern klein. Dafür ist der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung mit 24 Prozent hoch. Als Bremse zeichnet sich der Fachkräftemangel ab, als Risiko die hohe Abhängigkeit von Export und Autoindustrie.
Hohe Löhne befeuern den Konsum
Ein Teil der Unternehmen in der Visegrád-Region reagiert auch mit Automatisierung auf den Arbeitskräftemangel. Es gibt jedoch große Unterschiede zwischen den Ländern. Während die Roboterdichte in Tschechien und besonders in der Slowakei über dem EU-Durchschnitt liegt, haben Ungarn und Polen Nachholbedarf. Im April 2018 kündigten die Wirtschaftsminister der vier Länder eine engere Zusammenarbeit und gemeinsame Pilotprojekte im Bereich Industrie 4.0 an. Die Nachfrage nach Automatisierungsdienstleistungen aus der Region dürfte also steigen.
Und noch ein Wirtschaftszweig in den V4-Staaten entwickelt sich vielversprechend: Die boomende, immer hochwertigere Industrie sorgt für höhere Löhne. Und das macht die V4 zu einem zunehmend interessanten Absatzmarkt. Sowohl für langlebige als auch schnelldrehende Konsumgüter dürfte die Kaufkraft perspektivisch kräftig steigen.
Deutsche Unternehmen in den Staaten der Visegrád-Gruppe
Größte Fabrik steht in V4
Das Unternehmen aus Baden-Württemberg bietet Lösungen im Bereich Automation an. Mit mehr als 800 Angestellten ist der Produktionsstandort im ungarischen Veszprém der größte Fertigungsstandort des Unternehmens. Bereits 1989 eröffnete Balluff diese bisher einzige Fabrikation außerhalb Deutschlands. Zudem unterhält das Unternehmen in allen drei anderen Ländern der V4 Niederlassungen, um den Kontakt zu den Kunden vor Ort zu halten: in Prag (1995), Breslau (1998) und Bratislava (2009).
2.500 Mitarbeiter vor Ort
Automobilzulieferer Borgers betreibt in der Visegrád-Region vier Produktionsstätten sowie einen Konfektionsbetrieb und beschäftigt dort mehr als 2.500 Mitarbeiter. Den ersten dieser Standorte eröffnete das Unternehmen 1995 im tschechischen Rokycany. 1998, 2001 und 2004 kamen die weiteren Niederlassungen in Tschechien dazu und bieten heute insgesamt 2.200 Arbeitsplätze. Der polnische Produktionsstandort in der niederschlesischen Stadt Złotoryja wurde 2017 gegründet und beschäftigt rund 330 Mitarbeiter.
110 Millionen Euro investiert
Jeweils ein Standort in Polen und in Ungarn gehören zum Stahlunternehmen Wuppermann. Den polnischen Standort Małomice nahe der deutschen Grenze gründete die Firma 2011. Mittlerweile arbeiten rund 90 Personen in der Niederlassung. Ende 2016 eröffnete Wuppermann seinen zweiten V4-Standort im ungarischen Hafen Győr-Gönyű. Lediglich die Donau trennt die Niederlassung von der Slowakei. 110 Millionen Euro investierte Wuppermann in den Standort, der mittlerweile mehr als 200 Arbeitsplätze bietet.
Filialen in allen Hauptstädten
Der Spezialchemiekonzern Lanxess unterhält in allen vier Visegrád-Staaten Niederlassungen. Der Standort in Bratislava dient dem Unternehmen als Zentrale für Mittel- und Osteuropa. Die Vertriebsniederlassungen in den anderen Ländern der V4 befinden sich in den jeweiligen Landeshauptstädten. Alle Standorte in der V4-Region wurden 2008 eröffnet und beschäftigen insgesamt rund 40 Mitarbeiter. Für das Unternehmen waren die ansässigen Kundenindustrien wie beispielsweise Automobil-, Reifen-, Chemie- und Bauindustrie entscheidend für seine Tätigkeit.
Service für lokale Kunden
Insgesamt zehn Niederlassungen in den Ländern der V4 gehören zum weltweiten Netzwerk des Werkzeugmaschinenherstellers Trumpf. Es handelt sich um Vertriebs- und Servicestandorte, mit denen das Unternehmen seine lokalen Kunden bedient. Am Standort im tschechischen Liberec produziert das Unternehmen auch. Die erste Niederlassung in der Visegrád-Region eröffnete Trumpf im Jahr 2000 in der Slowakei. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen insgesamt rund 460 Mitarbeiter in den Visegrád-Staaten, davon 210 in Tschechien.
Service & Kontakt
Ihre GTAI-Ansprechpartnerin für Polen, Tschechien und die Slowakei
Regina Wippler
+49 228 24 993 416
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Martin Schulte
+49 228 24 993 245
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Sehr gute Zusammenfassung mit klaren Hintergrundinformationen.
Dr. Rainer Bartl BarTecC Techno Consulting GmbH