»Im Prinzip ist alles da«
Christine Lemaitre von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen erklärt, wo deutsche Bauunternehmen bei dem Wachstumstrend Nachholbedarf haben.
Februar 2021
Interview: Edda vom Dorp

Christine Lemaitre ist seit dem Jahr 2010 Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Sie ist Bauingenieurin, Fachgebiet Tragwerkskonstruktionen, und arbeitet seit dem Jahr 2009 bei der DGNB.
Christine Lemaitre: Das Thema gewinnt immer mehr an Bedeutung und ist sicherlich kein kurzlebiger Trend, der wieder verschwindet. Das lässt sich zum Beispiel an der Zahl der Projekte ablesen, die inzwischen eine Nachhaltigkeitszertifizierung erfolgreich abgeschlossen haben. Das DGNB-Zertifikat für nachhaltige Gebäude, Innenräume und Quartiere gibt es ja erst seit dem Jahr 2009. Aber wir haben seitdem damit bereits mehr als 7.000 Projekte in fast 30 Ländern ausgezeichnet.
Wie sind deutsche Unternehmen im Bereich nachhaltiges Bauen positioniert?
Christine Lemaitre: Die Ausgangslage ist eigentlich sehr gut. Wir verfügen in Deutschland über eine außerordentliche Bau- und Planungsqualität. Nur müssten wir sie im internationalen Markt viel progressiver vorantreiben, um uns entsprechend zu positionieren. Die wenigsten Architekten und Bauunternehmen aus Deutschland werben proaktiv mit dem Thema nachhaltiges Bauen. Erst wenn Bauherren danach fragen, passen sie sich an diese Wünsche an. Dabei ist im Prinzip alles da. Die Kompetenz im nachhaltigen Bauen müsste nur viel selbstbewusster formuliert und vorgetragen werden.
Warum hinken die Deutschen im internationalen Vergleich hinterher?
Christine Lemaitre: Deutsche Ingenieure sind eher rational und tendenziell ehrlich. Damit kommen sie teilweise als kompliziert rüber – oder als Bedenkenträger. Ein weiterer Faktor: Viele deutsche Anbieter haben nicht die Strukturen, um im Wettbewerb einen Full Service anbieten zu können. Internationale Projekte haben teilweise aber ganz andere Größenordnungen, bei denen man sich ohne entsprechende Strukturen gar nicht bewerben kann. Gezielte strategische Partnerschaften würden hier Sinn machen.
Welche Wettbewerber sind weltweit schon weiter, und was können sich deutsche Unternehmen von ihnen abschauen?
Christine Lemaitre: Unternehmen in Skandinavien gehen deutlich lockerer an Projekte ran. Sie bewerben sich erst einmal und stellen dann bei Bedarf die notwendigen Leute an. Deutsche Unternehmen haben eher die Sorge, dass sie es nicht stemmen können, und lassen es dann ganz.
Inzwischen gibt es immer mehr Projekte mit neuen Verbund- und Hybridwerkstoffen, die traditionelle Materialien wie Holz stabiler machen. Gibt das dem Thema Auftrieb?
Christine Lemaitre: Eigentlich nicht. Die wichtigste Botschaft im Hinblick auf Technologien lautet: Wir müssen nicht auf Innovationen hoffen und warten. Die notwendige Technik ist da. Am Ende geht es um die richtigen Entscheidungen für das individuelle Projekt. Wir brauchen also vor allem eine gute Planung. Welches Material im Einzelnen geeignet ist, ergibt sich dann.
Welche weiteren Trends sehen Sie beim Thema alternative Baustoffe auf die Bauwirtschaft zukommen?
Christine Lemaitre: Ich mag den Begriff Trends nicht. Grundsätzlich liegt die größte Herausforderung der Branche darin, pragmatische Lösungen umzusetzen. Mehr als in anderen Branchen geht es beim Bauen um Verlässlichkeit und Stabilität. Anders gesagt: Nur weil ein Bauunternehmen zum Beispiel Holz verwendet, ist das Bauvorhaben deshalb noch lange nicht nachhaltig. Diese Botschaft muss auch die Politik verstehen. Was es braucht, sind Offenheit und eine aktive Auseinandersetzung mit den individuellen Bauanforderungen. Ich warne davor, Schubladen aufzumachen und sie als Trends zu tarnen. Das wäre kontraproduktiv.
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