Februar 2020
Interview: Andreas Bilfinger
Frau Wild, Deutschlands Arbeitsmarkt ist vom Fachkräftemangel geprägt – gilt das auch im Ausland?
Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Wir haben auch sehr spezielle Funktionen, die wir besetzen möchten, für die es aber vielleicht nur eine Handvoll Experten auf der ganzen Welt gibt. Wir bekommen von unseren Führungskräften stellenweise das Signal, dass jemand nicht unbedingt an einem bestimmten Standort tätig sein muss, sondern dass wir auch global suchen können. Es ist manchmal schwieriger, Kandidaten in den USA zu finden als in Deutschland oder einem anderen europäischen Land. Wir beschränken uns dann nicht auf eine spezielle Region. Wir suchen weltweit. Generell gilt: Wenn wir Spezialisten suchen, können wir nicht mehr auf die einfache Stellenanzeige setzen, sondern müssen kreative Wege im Recruiting gehen.
Was meinen Sie mit „kreative Wege“?
Wir versuchen, uns in den einzelnen Regionen zielgruppenspezifisch aufzustellen: etwa über Events an Universitäten oder Active Sourcing. Wir haben außerdem mit #HumanChemistry eine einzigartige, globale Kampagne geschaffen, für die wir auch schon viele Awards gewonnen haben und die weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Wir setzen auf moderne Medien, haben zum Beispiel einen Instagram-Kanal für das Recruiting. Dort stellen wir Informationen zu Evonik als Arbeitgeber zur Verfügung. Wir sprechen potentielle Kandidaten auch über LinkedIn oder regionale Plattformen direkt an.
Wo ist die Personalsuche besonders schwierig?
Es ist tatsächlich überall eine Herausforderung. Wir merken aber, dass es an unseren Standorten in China seit einigen Jahren besonders herausfordernd ist. Die Konkurrenz ist intensiv, die Kandidaten sind eher bereit, schnell zu wechseln, wenn Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sind oder wenn sie ein finanziell besseres Angebot bekommen. Die langfristige Bindung zum Unternehmen ist oft nicht so stark ausgeprägt wie in Deutschland, wo unsere Mitarbeiter sehr lange im Unternehmen bleiben. Insgesamt haben wir bei Evonik eine eher geringe Mitarbeiterfluktuation.
Bildet Evonik im Ausland Facharbeiter aus?
Wir haben im Ausland keine klassische Ausbildung in Zusammenarbeit mit einer IHK, wie man sie hier in Deutschland kennt. Aber wir bieten für verschiedene Bereiche zum Beispiel Trainee-Programme an, in denen wir junge Mitarbeiter oder Hochschulabsolventen verschiedene Bereiche durchlaufen lassen. Auch für Facharbeiter in der Produktion bieten wir natürlich entsprechend Trainings und Schulungen an.
Evonik ist in mehr als 100 Ländern aktiv und hat Produktionsstandorte in 26 Ländern. Steuern Sie das Recruiting zentral?
Wir durchlaufen gerade eine Veränderungsphase, um das Recruiting bei uns noch globaler aufzustellen, aber grundsätzlich gibt es wenige globale Rollen – zum Beispiel, wenn es darum geht, auf unseren Social-Media-Kanälen präsent zu sein. Das muss nicht zwingend von Deutschland aus gemacht werden, sondern die Kollegen können auch in Singapur oder Schanghai sitzen. Wir führen künftig zentral mit globalen Prozessen, aber Recruiting bleibt auch ein regionales Geschäft. Wir haben insbesondere zum Thema Personalmarketing und Recruiting Spezialisten vor Ort: Man muss die regionalen Märkte kennen und die Talente in der Landessprache ansprechen können. Es macht aus unserer Sicht wenig Sinn, das Recruiting aus einem zentralen Hub zu betreiben.
Welche Rolle spielt Compliance bei der Stellenbesetzung im Ausland?
Wir haben eine globale Konzern-Richtlinie zum Thema Compliance, die eindeutig für alle Mitarbeiter weltweit dieselben Vorgaben macht. Bestechung und Korruption sind ganz klar untersagt. Auch unsere Lieferanten müssen bei Vertragsunterzeichnung bestimmte Grundsätze und Standards akzeptieren. Wir versuchen auch durch Besuche vor Ort, das sicherzustellen.
Gelten im Ausland dieselben Arbeitsschutzregeln wie im Inland?
Unsere Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen wir sehr ernst. Wir legen Wert darauf, dass unsere Mitarbeiter geschult sind, das gilt auch international. Der Konzern kommt in weltweit gültigen Richtlinien und Verfahrensanweisungen seiner Steuerungsfunktion in der Arbeits- und Anlagensicherheit nach.
Und wie halten Sie nach, ob sich alle Mitarbeiter darüber hinaus auch an abweichende Regeln vor Ort halten?
Das ist schon ziemlich aufwändig: In Europa zum Beispiel haben wir an vielen Standorten Sales-Mitarbeiter. Das können ein bis zwei Mitarbeiter in einem Land sein, die vielleicht im Home-Office arbeiten. Trotzdem muss man alle Arbeitsrichtlinien, alle Bedingungen des jeweiligen Landes kennen und natürlich einhalten. Es gibt Spezialisten und Agenturen in den Ländern, über die man sich dieses Wissen einkaufen kann, sodass man nicht immer alles „inhouse“ machen muss.
Stefanie Wild, Head of Talent Acquisition bei Evonik. © Julia Sellmann/laif
Nutzen Sie noch viele Entsendekräfte?
Ja, aber nicht nur aus Deutschland ins Ausland, sondern mittlerweile auch aus anderen Ländern nach Deutschland oder zum Beispiel aus den USA nach China. Ziel ist es, Know-how aufzubauen und zu verteilen – vor allem auch zur Mitarbeiterentwicklung. Wir haben Talent-Programme: Mitarbeiter, die in höhere Führungsfunktionen wollen, sollen auch andere Regionen kennengelernt haben. In der Regel werden die Entsendungen bei uns für drei Jahre geplant, bei Projekten können Laufzeiten entsprechend länger oder auch kürzer sein.
Reichen drei Jahre, um sich auf ein Land einzustellen?
In drei Jahren bekommt man schon einen sehr guten Eindruck von der Kultur in dem jeweiligen Land und auch von der Arbeitsweise. Es gibt auch Fälle, da wird das verlängert. Zudem bieten wir schon im Vorfeld interkulturelle Trainings und haben „Buddies“, die die Kollegen in den Ländern unterstützen. Ein „Buddy“ ist beispielsweise jemand in der Region, der den Mitarbeiter ins Unternehmen einführt, ein Netzwerk aufbaut und Fragen beantwortet, auch wenn es um private Dinge geht – wie Unterlagen bei Ämtern zu beantragen. Es gibt natürlich auch HR-Mitarbeiter vor Ort, die unterstützen.
Es gibt den alten Spruch „Im Ausland ein Fürstchen, im Inland ein Würstchen“ – sprich: Im Ausland hat man viel Verantwortung und verdient auch mehr Geld. Kommt man dann nach Deutschland zurück, ist das wie eine Degradierung. Wie gehen Sie damit um?
Das muss ich geraderücken: Eine Entsendung ist nicht zwingend mit einer Gehaltserhöhung verbunden. Es gibt höchstens Zulagen, Mieterstattungen zum Beispiel. Wir versuchen, schon frühzeitig mit den Kollegen zu klären, für welche Funktionen sie sich nach ihrer Rückkehr interessieren und wie ihre Auslandserfahrungen darin einfließen lassen können. Wir haben einen Mentor, der in dem Ursprungsland permanent mit dem Expat in Kontakt stehen soll. Nichtsdestotrotz ist es natürlich eine Herausforderung, die Mitarbeiter genau dann in die passende Funktion zu bringen, wenn das Assignment zu Ende geht. Es kann passieren, dass die Funktionen, die persönlich besonders spannend wären, noch nicht frei sind. Wir versuchen daher, alles möglichst frühzeitig zu planen und zu koordinieren.
Gibt es vermeidbare Fehler bei der Personalsuche im Ausland?
Es ist gut, von Anfang an mit einheitlichen Strukturen zu arbeiten – vorausgesetzt, das lässt sich so einrichten. Bei Evonik reichen die Wurzeln des Unternehmens auch international weit zurück. Es gab Vorgängergesellschaften. Es gab immer wieder Veränderungen, neue Aktivitäten und auch Zukäufe. Gegenwärtig hat Evonik noch regional verschiedene Prozesse bei der Personalsuche und arbeitet mit unterschiedlichen IT-Tools. Das macht unser globales Recruiting ziemlich komplex. Jetzt sind wir dabei, das zu harmonisieren und in einem globalen Tool zusammenzuführen. Durch die globalen End-to-End-Prozesse statten wir unsere Personalsuche auch nach außen hin nochmals mit deutlich mehr Schubkraft aus.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Region Nordamerika hatte früher einmal einen tollen Interview-Leitfaden und ein Eignungsdiagnostik-Tool für sich entwickelt. China und Deutschland hatten sich jeweils etwas Anderes auf genau demselben Themengebiet überlegt. Alle drei Ergebnisse funktionierten gut, aber wenn sich ein Team gemeinsam und übergreifend an die Arbeit macht, ist das Ergebnis global nutzbar. Das Know-how aus allen Regionen miteinander zu verknüpfen ist eben deutlich effizienter und erfolgreicher. Die Talent- oder Kandidatenmärkte werden ja auch immer globaler.
Setzen Sie auf externe Berater bei der Personalsuche im Ausland?
Wir versuchen den Einsatz von Personalberatern soweit wie möglich einzuschränken, denn er ist sehr kostspielig. Durch viele neue Medien und Tools haben wir die Möglichkeit, auch in Eigenregie auf den Märkten präsent zu sein. Auf LinkedIn oder Xing zum Beispiel sind sehr viele Profile zu finden. Nichtdestotrotz gibt es immer wieder seltene Nischenberufe oder Spezialtätigkeiten, bei denen es auch aus unserer Sicht Sinn macht, einen Berater einzusetzen, der dafür vielleicht schon ein Netzwerk hat und auch die Anforderungen unseres Unternehmens kennt. Manchmal sind gerade Spezialisten im chemischen Bereich oder Ingenieure mit besonderen Fachkenntnissen kaum präsent in den sozialen Medien. In solchen Fällen sind unsere internen Möglichkeiten für die Personalsuche im Ausland dann irgendwann auch ausgeschöpft.
Kümmern Sie sich selbst um Social Media?
Teilweise. Man muss unterscheiden: Es gibt die Social-Media-Präsenz im Sinne von Unternehmens- und Tätigkeitsprofilen, die wir als Social-Media-Content zur Verfügung stellen. Darum kümmern sich die Kollegen aus dem Employer Branding und der Kommunikation. Und es gibt Mitarbeiter im Recruiting, die eine Direktansprache von Kandidaten auf den Plattformen übernehmen. Diesen Teil übernehmen wir nicht überall selbst. In den USA haben wir das Recruiting gerade komplett an einen Dienstleister vergeben, weil sich für uns dadurch Vorteile ergeben. Dieser Partner kennt buchstäblich Land und Leute ganz genau. Er sucht mögliche Kandidaten für einen Arbeitsplatz bei Evonik und übernimmt auch das Active Sourcing. Wir führen aber auch weiterhin die Interviews und treffen die Einstellungsentscheidungen.
Was raten Sie einem deutschen Mittelständler, der im Ausland Personal sucht?
Ich würde mir auf jeden Fall den individuellen regionalen Markt anschauen. Wo sind Bewerber unterwegs? In manchen Regionen sind es ganz andere Social-Media-Plattformen als hier, manchmal ist Social Media überhaupt kein Thema. An unserem Standort Wolgodonsk in Russland, mehr als fünf Stunden von Moskau entfernt, werden wir nicht primär über LinkedIn erfolgreich sein. Da gibt es regionale Plattformen, über die man Mitarbeiter ansprechen und gewinnen kann.
Akzeptieren Sie auch Quereinsteiger?
In der Evonik Digital GmbH arbeitet beispielsweise auch ein gelernter Journalist sowie Politik- und Sozialwissenschaftlerinnen. Wir haben dort ganz bewusst diesen Ansatz gewählt, um möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen zusammenzubringen. Denn einen anderen, zusätzlichen Blickwinkel zu bekommen, ist durchaus hilfreich. Wir haben viele unterschiedliche Produkte für viele unterschiedliche Industriezweige – und damit schon ein sehr breites Spektrum an Know-how im Unternehmen. Wir legen jedoch großen Wert darauf, dass sich Mitarbeiter bei uns intern weiterentwickeln können, auch wenn das vielleicht gar nicht ihrer Ursprungsausbildung entspricht.
Wie lange brauchen deutsche Mitarbeiter, um sich im Ausland einzuarbeiten?
Das kommt darauf an. Manche machen im Ausland genau das, was sie hier in Deutschland gemacht haben. Solche Mitarbeiter sind natürlich sehr schnell einsatzbereit und müssen sich eher mit den interkulturellen Themen auseinandersetzen, was auch persönlich und je nach Region unterschiedlich ist. Wenn wir neue Mitarbeiter einstellen, gehen wir von einer Einarbeitungszeit von etwa sechs Monaten aus, bis jemand wirklich im Unternehmen „angekommen“ ist, seine Arbeit rundum gut erledigen kann – und verstanden hat, wie Evonik „tickt“.
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»Eine gute Arbeitgebermarke ist ein wichtiger Erfolgsfaktor.« – Interview mit Personalberaterin Anke Wolf
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