Oktober 2019
Autor: Oliver Döhne
Der kranke Mann Europas – diese unschöne Diagnose stellte die französische Tageszeitung „Le Monde“ Italien Mitte 2019. Und tatsächlich: 2018 verzeichnete Italien das niedrigste Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union (EU). Mit Mühe muss Rom immer wieder ein EU-Defizitverfahren abwenden, das angesichts einer Staatsverschuldung von mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eigentlich fällig wäre. Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt. Im Süden ist jeder zweite Jugendliche ohne Job. Den Unternehmen fehlen in den kommenden fünf Jahren 280.000 Fachkräfte, die Digitalisierungsoffensive ist versandet, und der Infrastrukturausbau steckt fest.
Das Gefühl von Stillstand und Ohnmacht hatte bei der Wahl 2018 die Anti-Establishment-Bewegung Fünf Sterne an die Macht gebracht, die sich in ihrem Reformwillen sogar in eine Koalition mit der ultrarechten Lega wagte. Diese unerwartete Verbindung hielt zwar länger als gedacht, scheiterte dann aber doch an unvereinbaren programmatischen Unterschieden. Über persönliche Streitereien verloren die Akteure die eigentlich wichtige Frage aus den Augen: Wie nämlich die Zukunftsstrategie für den alternden und vom digitalen Wandel herausgeforderten Industriestandort Italien aussieht. Darauf muss nun die neue Koalition aus Fünf Sterne und Sozialdemokraten eine Antwort finden.
„Es ist an der Zeit, der Vernunft zu folgen und sich nicht auf der Suche nach Konsens zu verlieren“, mahnte Vincenzo Boccia, Präsident des Industriedachverbands Confindustria. „Italien braucht Wachstum und Arbeit, angefangen bei den Jugendlichen im Süden.“
»Duale Ausbildung kann auch in Italien optimal funktionieren.«
Jörg Buck,
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Italienischen Handelskammer
Auch deutsche Unternehmen leiden unter der vertrackten Lage. In einer Umfrage der Deutsch-Italienischen Handelskammer (AHK Italien) im Juni 2019 gaben 26 Prozent der Unternehmen an, weniger oder gar nicht mehr in Italien zu investieren. 59 Prozent schätzten die Wirtschaftslage negativ ein. Als Hauptrisiken gab die Mehrheit die Wirtschaftspolitik, den Nachfragerückgang, den Zustand der Infrastruktur und den Fachkräftemangel an. Die AHK Italien unterstützt den Staat dabei, ein zugänglicheres und praxisorientierteres technisches Ausbildungssystem mit einheitlichem Industriestandard zu etablieren – denn an diesen Punkten hakt es häufig.
Deutsche halten am Standort fest
Dennoch gehen viele deutsche Unternehmen davon aus, sich in Italien weiter behaupten zu können. „Trotz dieser Bedenken erwarten 87 Prozent der Befragten immer noch eine positive bis stabile Entwicklung ihres Unternehmens und beweisen damit die Widerstandsfähigkeit, die die deutsch-italienische Business Community kennzeichnet“, sagt Jörg Buck, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der AHK Italien. Nach einem Rekordwert im bilateralen Handel 2018 stieg der deutsche Export nach Italien auch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres, trotz Nullwachstum der italienischen Konjunktur.
Die Stemmer Imaging AG aus dem bayerischen Puchheim ist eines der Unternehmen, das sein Vertrauen in den italienischen Markt behalten hat. Der Spezialist für industrielle Bildverarbeitung hat kürzlich eine Tochtergesellschaft in Bologna gegründet. So will die Firma ihre langjährigen Geschäftsbeziehungen mit Italien festigen. „Wir sind fest davon überzeugt, mit einem eigenen Standort das große Potenzial des italienischen Marktes noch effizienter heben zu können“, sagt CFO Lars Böhrnsen. „Wir freuen uns, bereits qualifiziertes Personal für die lokale Betreuung gefunden zu haben.“
Eine der wichtigsten Aufgaben dürfte sein, bei den Italienern wieder eine positive Beziehung zu Europa aufzubauen. Viele fühlen sich von der EU bevormundet und ausgenutzt, ein Gefühl, das Lega-Chef Matteo Salvini in seinen Schimpftiraden noch zusätzlich anstachelt. Neues Vertrauen in eine übergeordnete Sache zu schaffen, von der langfristig alle profitieren – ein Konzept, mit dem Italiener ohnehin ihre Probleme haben –, könnte allerdings noch eine längere und schwierigere Aufgabe werden.
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