Dezember 2019
Autor: Peter Buerstedde
Ein Gilet Jaune hält in der Nähe des Pariser Triumphbogens eine Leuchtfackel hoch. Die gelben Warnwesten wurden zum Markenzeichen der Protestbewegung. Bei ihren Demonstrationen kam es oft zu Ausschreitungen. © Pete Kiehart/Redux/laif
Ein ausgebranntes Auto vor meinem Wohnhaus. Im Hausflur liegt ein Backstein, die Fensterscheibe der Eingangstüre ist grob mit Plastikfolie verklebt, ihre Reste liegen zusammengekehrt am Boden. Sonntagabend Anfang Dezember 2018 bin ich von einem Wochenendausflug in meine Pariser Wohnung zurückgekehrt. Der Concierge schaut etwas erschrocken. „Mais c’est des dingues! Das sind Verrückte! Aber ich lasse mich nicht einschüchtern.“
Anders die Regierung. Die Gelbwestenproteste haben seit Ende November 2018 über Monate hinweg jeden Samstag landesweit für Unruhe gesorgt. Zuerst wollte Präsident Emmanuel Macron ihnen die Stirn bieten. Aber als die Straße partout nicht zur Ruhe kam, setzte er geplante Steuererhöhungen aus, befreite Überstunden von Steuern und Abgaben und erhöhte den Mindestlohn sowie niedrige Renten – alles in allem 17 Milliarden Euro zur Stärkung der Kaufkraft. Anfang des Jahres lancierte er eine nationale Debatte. Dabei reiste Macron kreuz und quer durchs Land und stellte sich auf Bürgerversammlungen stundenlang den Fragen der Bevölkerung.
Kommentar
von Peter Buerstedde, GTAI Paris
Das bleibt von Macrons Plänen
In einem wichtigen Punkt ist der Reformspielraum der Regierung mit den Protesten arg zusammengeschrumpft. In den jährlich von der Auslandshandelskammer in Paris und der Beratungsgesellschaft EY durchgeführten Umfrage beklagen deutsche Unternehmensvertreter in Frankreich die hohe Steuerlast. Die kann nur verringert werden, wenn der Staat schlanker wird. Frankreich wies 2018 laut Eurostat mit 56 Prozent die höchste Staatsquote in der Europäischen Union auf, in Deutschland waren es 43,9 Prozent. Mit den Kaufkraftmaßnahmen von 17 Milliarden Euro entfernt sich Präsident Emmanuel Macron immer weiter von seinem Ziel, die Staatsquote bis Mandatsende auf 52 Prozent zurückzuführen. Die Reformen des Arbeitsmarktes laufen. Sie motivieren Unternehmen, Mitarbeiter einzustellen, falls sie angesichts eines wachsenden Fachkräftemangels überhaupt welche finden. Hier dürfte mittelfristig die Ausbildungsreform helfen.
Waren es das zusätzliche Geld, die teilweise im Fernsehen übertragenen Diskussionsrunden oder der beginnende Sommer? Seit Juni sind die Proteste jedenfalls weitgehend versiegt. Doch die Ruhe täuscht. Die Lage ist weiter höchst volatil, und selbst Macron sagte Ende Juli im Urlaub bei einem Dorfspaziergang, er glaube nicht, dass die Proteste überstanden seien.
Die Gelbwesten waren aus weitgehend heiterem Himmel auf die Regierung herabgestürzt. Nach seinem Amtsantritt 2017 hatte Macron in schneller Folge wichtige Reformen umgesetzt: Entschädigungszahlungen bei Arbeitskonflikten wurden gedeckelt, die Arbeitgeber zuvor vor Einstellungen zurückschrecken ließen, das Ausbildungssystem verbessert, die Staatsbahnen umstrukturiert. Studien wollten Mitte 2019 schon erste Auswirkungen beim Arbeitsmarkt gemessen haben. So waren Unternehmen eher bereit, unbefristete Verträge abzuschließen als zuvor. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostizierte sogar auf zehn Jahre verteilt 3,2 Prozentpunkte mehr Wachstum durch die Reformen.
Zahlen & Fakten
Die Regierung Macron hat als Reaktion auf die Proteste Steuererhöhungen ausgesetzt, den Mindestlohn und niedrige Renten erhöht. So soll die Kaufkraft um 17 Milliarden Euro steigen.
Die OECD prognostizierte zunächst 3,2 Prozentpunkte zusätzliches Wachstum in den nächsten zehn Jahren. Unternehmen und Ökonomen hatten sehr positiv auf Macrons Reformpläne reagiert.
Quellen: Französische Regierung, OECD
Das ländliche Frankreich ist frustriert
Der Frust, der seit Oktober 2018 in friedlichen Protesten, aber immer wieder auch in gewaltsamen Ausschreitungen zum Ausdruck kommt, hat sich über einen langen Zeitraum aufgestaut. Als Wiege der Bewegung gilt „la France périphérique“, das Frankreich der Peripherie im ländlichen Raum und in den Vorstädten. Hier haben die Menschen besonders darunter zu leiden, wenn die Regierung staatliche Leistungen herunterfährt. Sie fühlen sich von den boomenden Regionen Paris, Lyon sowie der Mittelmeer- und Atlantikküste immer stärker sozial abgehängt.
Mehrere Regierungen hatten versprochen, die wachsende Kluft zu verringern, haben ihre Versprechen aber nicht erfüllt. Hinzu kamen 2018 einige unsensible Bemerkungen des Präsidenten und Steuerreformen, die vielen Menschen als sozial unausgewogen erschienen. In den Echokammern der sozialen Medien hat sich der Frust darüber schließlich radikalisiert.
Die Explosion der aufgestauten Wut hat nach einem Bericht der französischen Nationalversammlung durch Zerstörungen und Umsatzeinbußen 217 Millionen Euro gekostet. Zugesetzt haben der Wirtschaft vor allem Lieferunterbrechungen, die zu Ausfällen geführt haben.
Der Reformprozess seit dem Amtsantritt von Präsident Macron war von ausländischen Firmen fast euphorisch aufgenommen worden. Obwohl der Präsident an seinem Kurs festhalten will, fürchten manche Unternehmensvertreter nun, dass sich nach einem fast klassischen Muster vergangener Präsidentschaften auch Macron in seiner zweiten Amtshälfte zu einer Kehrtwende gezwungen sehen wird.
Nach den Protesten hat die Regierung vor dem Sommer bereits ein erstes heißes Eisen angefasst, indem sie die Arbeitslosenversicherung anpasst, was den deutschen Hartz-Reformen nahekommt. Die latente Unzufriedenheit und das Misstrauen gegenüber der Politik sind in Frankreich aber dadurch nicht geringer geworden. Die Regierung plant eine Rentenreform, die Abschaffung von Subventionen auf Diesel und eine Ausrichtung verschiedener Steuern an ambitionierte Klimaziele. Diese Veränderungen schaffen Verlierer und Gewinner. Und jede Menge Material, an dem sich die Proteste erneut entzünden könnten.
Service & Kontakt
Ihr GTAI-Ansprechpartner für Frankreich
Karl-Heinz Dahm
+49 228 249 993 274
Weitere Informationen zum Land: www.gtai.de/frankreich
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