Stadt der Zukunft

Spaniens Hauptstadt und Wirtschaftsmetropole Madrid bekommt ein neues ­Stadtviertel: Madrid Nuevo Norte zählt zu den größten Bauvorhaben Europas. Die ersten Bauarbeiten sollen 2023 beginnen.

Februar 2023
Autor: Oliver Idem

Im Norden Madrids entsteht ein neues Stadtviertel mit mehr als 10.500 Wohnungen, 400.000 Quadratmetern Grün- und rund 1,6 Millionen Quadratmetern Bürofläche © SKYLINE/Cercan/REV3/Madrid Nuevo Norte

Wer sich auf Madrids Prachtstraße Paseo de la Castellana in Richtung Norden bewegt, gelangt zur Plaza de Castilla. Hier neigen sich die beiden Hochhäuser der Puerta de Europa zur Straßenmitte. In einem der 24-stöckigen Bürotürme schmieden Städteplaner, Architekten und Ingenieure große Pläne. Hier befindet sich das Projektbüro von Madrid Nuevo Norte, zu Deutsch: Madrids Neuer Norden. Unter diesem Namen erhält die Stadt ein neues Viertel, das viele Ansprüche erfüllen soll: bezahlbare Wohn- und Geschäftsräume, attraktive Naherholungsgebiete, nachhaltige Energieversorgung, intelligentes Verkehrs- und Abfallmanagement, um nur einige Stichworte zu nennen.

Der Blick aus dem Fenster des Projektbüros fällt gleich auf das künftige Betätigungsfeld nördlich des Bahnhofs Chamartín. Dessen Gleise durchschneiden das Baugebiet, genauso wie stillgelegte Industriegebiete, Brachflächen und Autobahntrassen – insgesamt rund drei Millionen Quadratmeter, eine Fläche, die fast so groß ist wie der Central Park in New York.

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Eine Brache wird In-Viertel

Was heute öde und grau aussieht, soll künftig ein attraktives, nachhaltiges Stadtviertel sein. Vier Zonen wollen die Planer in einem 5,6 Kilometer langen und einem Kilometer breiten Streifen bebauen. In Estación de Chamartín und Centro de Negocios Chamartín sollen vor allem Büros entstehen, in Malmea-San Roque-Tres Olivos Wohnungen. Und das Viertel Las Tablas Oeste soll einen Mix aus Wohnen und Arbeiten beherbergen.

Madrid Nuevo Norte soll den Norden der Hauptstadt zusätzlich beleben. Tagsüber verödete Schlafstädte oder nachts ausgestorbene Gewerbegebiete soll es hier nicht geben. Deshalb ist die Einbindung von Wohnraum, Arbeitsplätzen und Handelsflächen zentraler Bestandteil des Projekts. Die neuen Ansätze sehen zudem vor, das neue Viertel mit der bestehenden Umgebung zu verzahnen. Schon heute befinden sich in der Nähe unter anderem mehrere Gewerbegebiete, Krankenhäuser und ein Gesundheitscluster. Neben der Eisenbahn verfügt Madrid Nuevo Norte auch über Anbindungen an die Metro, das Busnetz und mehrere Autobahnen.

Für das Megabauprojekt ziehen private und öffentliche Akteure bei der Umsetzung an einem Strang. In ungewohnter Einigkeit unterstützen die Parteien im Stadtrat und der Regionsversammlung das Vorhaben. Die Verwaltung vereinfachte sogar einige Regeln, um die Realisierung zu erleichtern. Das Verkehrsministerium der Zentralregierung und die Bahninfrastrukturgesellschaft Adif verleihen Madrid Nuevo Norte ebenfalls Rückenwind. In der privatwirtschaftlichen ­Be­treibergesellschaft haben sich die Bank BBVA, das Bau- und Energieunternehmen Grupo San José und die Immobilienfirma Merlin Properties zusammengeschlossen. Nahezu 30 Jahre nach den ersten Gedankenspielen kann Madrid sein Vorzeigeprojekt nun umsetzen.

Wie die politischen Akteure ergänzen sich auch die Investitionen von privater und staatlicher Seite. Das Prognoseinstitut Lawrence R. Klein der Universidad Autónoma de Madrid hat für einen Zeitraum von 25 Jahren ein Investitionsvolumen von 25,2 Milliarden Euro für Madrid Nuevo Norte errechnet. Davon sind 87 Prozent dem privaten Bau- und Immobiliensektor zuzurechnen. Der Rest entfällt auf öffentliche Investitionen in Bau und Infrastruktur. Dabei ist die Regionalregierung zuversichtlich, dass die öffentlichen Investitionen sich durch entsprechende Steuereinnahmen in der Zukunft rechnen werden.

»Neben den Fakten entscheiden oft auch Harmonie und Vertrauen.«

Oliver Idem
Germany Trade & Invest Madrid

Lesen Sie hier seine Marktprognose zu Spanien.

Die Baupläne sind im Entstehen

Aufgrund der langen Umsetzungsphase von nahezu 20 Jahren sind noch nicht alle Details des Bauvorhabens festgelegt. Der flexible Ansatz bietet Möglichkeiten, auf Details Einfluss zu nehmen und das Vorhaben mitzuprägen. „Madrid Nuevo Norte birgt für viele deutsche Unternehmen mittel- und langfristig sehr interessante Geschäftsmöglichkeiten. Der starke Fokus auf Energieeffizienz und Nachhaltigkeit sowie Digitalisierung und Innovation ermöglicht es deutschen Anbietern, mit ihren etablierten und modernen Lösungen an diesem Projekt teilzuhaben“, sagt Markus Kemper, Leiter des Bereichs Marktberatung der deutschen Auslandshandelskammer (AHK) in Madrid.

Die spanische Bauwirtschaft befindet sich zwar fest in einheimischer Hand. Der Fokus von Madrid Nuevo Norte liegt aber nicht nur auf dem klassischen Hoch- und Tiefbau. Vor allem das starke Interesse an nachhaltigen und kreativen Lösungen eröffnet lukrative Beteiligungschancen auch für deutsche Unternehmen mit entsprechender Technik und Expertise. „Der Schlüssel zum Erfolg von Madrid Nuevo Norte liegt in der Gewinnung von Talenten und in der Innovation. Zahlreiche Unternehmen aus den Bereichen Ingenieurwesen, Infrastruktur und Bauwesen, Architektur und Technologieberatung, Immobilien, Telekommunikation, Finanzen und Recht werden daran beteiligt sein“, sagt José Luis Moreno, Managing Director des Madrid Nuevo Norte Office der Regionalregierung. Ein breites Spektrum also, in dem sich auch deutsche Unternehmen positionieren können. „Die Dimensionen des Vorhabens sind zwar außergewöhnlich groß. Aber davon sollten sich kleine und mittelständische Unternehmen nicht abschrecken lassen, sondern sie sollten vielmehr versuchen, sich ihren Anteil zu sichern“, sagt Kemper.

»Deutsche Unternehmen sollten sich ihren Anteil sichern.«

Markus Kemper
AHK Madrid

Nachhaltigkeit wird großgeschrieben

Zum Beispiel, indem sie sich an das Innovationslabor wenden. Die Stadt Madrid und der Verband Asociación Madrid Capital Mundial de la Construcción, la Ingeniería y la Arquitectura haben im Juli 2022 das Laboratorio de Soluciones Urbanas gegründet. Es nimmt Vorschläge entgegen, die sich auf die Gestaltung von Madrid Nuevo Norte beziehen. Der Fokus liegt dabei auf Nachhaltigkeit, Mobilität, Energie, Innovationen bei dekarbonisierten Baumaterialien, Wasser und Abfallwirtschaft. Bei der Planung kommt eine dreidimensionale Bauwerksdatenmodellierung zum Einsatz. Zudem setzen die Planer auf Transparenz und Wettbewerb bei der Projektvergabe. „Alle öffentlichen Aufträge von Stadtverwaltung, Regionalregierung und Adif werden auf www.boe.es und www.bocm.es publiziert, private ­Aufträge auf www.creamadridnuevonorte.com kündigt Moreno an.

Die Größenordnung des Projekts Madrid Nuevo Norte ist auch für die Maßstäbe von Spaniens Hauptstadt erheblich. Die Metropolregion zählt zu den größten Ballungsräumen der Europäischen Union: Im Umkreis einer Stunde Fahrt leben etwa 8,6 Millionen Menschen. Madrid und das Umland sind stark vom Dienstleistungssektor geprägt und Sitz vieler nationaler und internationaler Unternehmen. Zwei von drei Aktiengesellschaften aus dem Index Ibex 35 haben hier ihren Sitz. Die Wirtschaftsleistung der Region lag 2020 bei rund 240 Milliarden Euro – jeder fünfte in Spanien erwirtschaftete Euro stammt von dort. Zudem hat sich Madrid zu einem Magneten für ausländisches Kapital entwickelt: Im Jahr 2021 vereinigte die Region 73 Prozent der Bruttozuflüsse in neue Projekte, Erweiterungen und Übernahmen in Spanien auf sich.

Dieser Erfolg hat seinen Preis, vor allem, wenn es um die Verfügbarkeit von Grundstücken geht. Baugrund in der Stadt ist knapp und teuer. Madrid Nuevo Norte profitiert jedoch von der Verlegung der Bahngleise unter die Erde. Damit entsteht ein ungewöhnlich großer städtischer Raum, auf dem sich viele Ideen umsetzen lassen, zum Beispiel einige markante Gebäude. So sollen den Hochhäusern der Hauptstadt noch drei weitere hinzugefügt werden, die Bürotürme Torre MNN 1 bis MNN 3. Der größte Wolkenkratzer wird mit mindestens 250 Meter Höhe alle bereits existierenden weit überragen. Da es sich um moderne Gebäude in bester Lage handelt, sind Experten optimistisch, die neuen Flächen auch vermieten zu können. Für diese Annahme spricht, dass in der Umgebung hochwertige Büroflächen gut ausgelastet sind und Homeoffice nach einem Höhepunkt in der Coronakrise wieder rückläufig ist.

Bei der Realisierung einzelner Bauprojekte achten die Planer von Madrid Nuevo Norte besonders darauf, Ressourcen zu schonen und eine umweltfreundliche Versorgung sicherzustellen. Nachhaltigkeit ist von Anfang an wichtiger Bestandteil der Pläne. Davon zeugen auch zwei Präzertifizierungen der höchsten Kategorie: Leadership in Energy and Environmental Design, v4.1 Cities and Communities Plan and Design und Building Research Establishment Environmental Assessment Methodology, Urbanismo 2020. Außerdem hat die Europäische Kommission das Projekt als Innovationsmodell eingestuft, sodass Madrid Nuevo Norte zu einem Referenzvorhaben für Gebäude- und Städtebau aufsteigt. Mit der Integration in- und ausländischer Technik soll ein Testfeld entstehen, dessen Elemente künftig in anderen Teilen von Madrid und weiteren Städten der Welt verwendet werden können.

Geothermie und Nahkälte sind geplant

Einige Eckpunkte für die nachhaltige Gestaltung stehen bereits heute fest. Zu den Ansätzen gehören Geothermie im Gebiet Las Tablas West und die Nutzung von Solarenergie, inklusive Speichertechnik zur besseren Koordination von Angebot und Nachfrage. Erneuerbare Energiequellen sollen auch das vorgesehene Nahwärme- und Nahkältenetz speisen, Passivhauskonzepte zu mehr Energieeffizienz beitragen. Und auch der öffentliche Personennahverkehr spielt eine zentrale Rolle: Wer im Neuen Norden Madrids arbeitet, wohnt oder seine Freizeit verbringt, legt maximal zehn Minuten Fußweg zur nächsten Haltestelle zurück. Zudem wird vom Bahnhof Chamartín aus eine Metrolinie ins Projektgebiet verlängert. Als erste Linie in der Stadt soll diese autonom ohne Fahrpersonal unterwegs sein. In der Umgebung der Bahnhaltestellen ist vorgesehen, ein Angebot an Carsharing und anderen Mobilitätslösungen als Ergänzung zu schaffen.

Madrid Nuevo Norte soll bis zum Jahr 2040 Realität sein. Einer der ersten Schritte auf diesem langen Weg ist der Baubeginn im Gebiet Las Tablas – dieser ist für das Jahr 2023 anvisiert.

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