Mobil machen
Die zunehmende Urbanisierung und das steigende Transportaufkommen stellen Städte weltweit vor große Herausforderungen. Setzen sie nicht auf neue Mobilitätslösungen, droht der Verkehrsinfarkt. Ein Blick in drei Weltmetropolen.
Juni 2020
Autoren: Robert Espey, Marc Lehnfeld, Roland Rohde und Charlotte Schneider
© Matthias Makarinus/Getty Images
Mit dem autonom fahrenden Shuttlebus geht es von der Haustür zum nah gelegenen Bahnhof, dort wartet bereits das Flugtaxi. Die letzten Kilometer bis zur Arbeit werden dann mit dem geliehenen E-Roller zurückgelegt. Alles vernetzt, nahtlos und vor allem: staufrei. Eine App informiert über alternative Verkehrsträger und schnellere Routen, bucht Bus, Flugtaxi und E-Roller und rechnet sie gemeinsam ab.
Zukunftsmusik? Weit gefehlt. Was für manchen noch utopisch klingen mag, könnte bald schon Realität sein. Ob Mobilität als Dienstleistung, Mikromobilität oder Shared Mobility – die Liste der Mobilitätstrends ist lang. Klar ist: Die Welt der Mobilität steht vor einer tief greifenden Transformation. Nirgendwo sonst werden diese Innovationen spürbarer sein als in den Städten – und nirgendwo sonst werden sie dringender gebraucht.
Urbanisierung bringt Probleme
Schon jetzt lebt mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung in Großstädten mit mehr als einer Million Einwohnern. Tendenz: steigend. Laut den Vereinten Nationen werden bis zum Jahr 2050 etwa 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten wohnen, rund 2,5 Milliarden Menschen mehr als noch 2018.
Mit der zunehmenden Urbanisierung ist der wachsende Wohnraumbedarf nicht die einzige Herausforderung. Menschen und Güter müssen sich weiter ungehindert bewegen können – und das braucht Platz. Platz, der bereits jetzt schon begrenzt ist, wie jährliche Staustatistiken zeigen.
Die Eingliederung neuer Verkehrsträger wie Fahrradleihsysteme und Flugtaxis sowie der Ausbau bestehender Verkehrsinfrastruktur wird den absehbaren Verkehrskollaps nicht verhindern. Entscheidende Schlagworte der notwendigen Verkehrswende sind laut Experten Automatisierung, Elektrifizierung und Konnektivität.
Dabei sind die Herausforderungen jeder Stadt so unterschiedlich wie die bestehenden Verkehrssysteme selbst. Eine Patentlösung gibt es nicht. Drei Großstädte zeigen, wie sie künftigen Mobilitätsherausforderungen begegnen.
London: geteilte Daten gegen den Stau
Wie kommt man in London am schnellsten von A nach B? Viele Londoner nutzen dafür eine von Citymapper entwickelte Mobilitäts-App. Einfach Start- und Zielort eingeben, schon berechnet das Programm den schnellsten Weg zu Fuß, per Auto, U-Bahn, Bus, Bahn, Fahrrad, Seilbahn – mit mit allem zusammen. Auch das Taxi kann über die Smartphone-App gebucht und bezahlt werden.
Diese Mobilitätsdienstleistung ist unter anderem deshalb möglich, weil die Daten für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) von Londons zentraler Verkehrsbehörde Transport for London (TfL) kostenlos auf deren Seite bereitgestellt werden. Rund 700 Apps nutzen bereits die regelmäßig aktualisierten Datensets der Stadt, die nicht nur An- und Abfahrtszeiten in Echtzeit beinhalten, sondern zum Beispiel auch Informationen zur Luftqualität, Fußwegzeiten zwischen Haltestellen sowie Verkehrskameras, um das Stauaufkommen zu berechnen.
„London ist eine weltoffene Stadt“, sagt Rikesh Shah, Head of Commercial Innovation bei TfL, und lädt Tüftler aus der ganzen Welt auf die Spielwiese der britischen Hauptstadt ein. „Wir wollen mit den besten und innovativsten Entwicklern zusammenarbeiten.“ Das ist erforderlich, denn die Ziele der Stadt sind ambitioniert: Bis zum Jahr 2041 sollen rund 80 Prozent der bis dahin 33 Millionen täglichen Fahrten sowohl im ÖPNV wie auch per Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden.
London: Zu Fuß mit Go Jauntly
„Schöne Spazierwege in London zu finden, ist unglaublich schwer“, sagt Hana Sutch. Deshalb hat sie mit Steven Johnson im Jahr 2017 die App Go Jauntly entwickelt, die die schönsten Orte in London bündelt. Die App passt in die Modal-Shift-Strategie der Stadt, die ihre Bürger dazu ermutigen will, nicht nur ÖPNV und Fahrrad zu nutzen, sondern öfter zu Fuß zu gehen. Um immer mehr Wege und Städte zu erschließen, arbeitet Go Jauntly mit Kommunen und Verkehrsbetrieben zusammen. Rund 1.200 Wege im Vereinigten Königreich bündelt die App aktuell mit rund 15.000 aktiven Nutzern. Tendenz: steigend.
© Walter Rawlings/robert-harding/laif
TfL arbeitet schon jetzt eng mit externen Partnern zusammen. Dafür startet der Verkehrsbetrieb regelmäßig Innovationswettbewerbe, in denen die Teilnehmer Mobilitätslösungen entwickeln. Wie zuletzt das London Freight Lab, mit dem TfL den Lieferverkehr effizienter und umweltfreundlicher machen will. Partner von London Freight Lab ist der Co-Working-Space samt Innovationszentrum von Plexal mit 1.000 Arbeitsplätzen im ehemaligen olympischen Pressezentrum in Ostlondon. Dort arbeiten 16 Firmen an Mobilitätslösungen, darunter das Smart Mobility Living Lab mit Testumgebungen für autonomes Fahren.
Auch deutsche Unternehmen sind in London aktiv. Mit Bosch befindet sich TfL in einer Kooperation, unter anderem um mithilfe künstlicher Intelligenz die Sicherheit an Kreuzungen zu verbessern. In seinem Innovation Space „London Connectory“ bringt der deutsche Konzern außerdem seine Ingenieure mit derzeit zwölf Start-ups zusammen.
Dubai: autonom soll es sein
Eine Vorreiterroller bei urbaner Mobilität will auch das Emirat Dubai einnehmen. Um diesen Anspruch zu unterstreichen, hat die Roads and Transport Authority (RTA) im Jahr 2018 einen internationalen Wettbewerb rund um autonom fahrende Autos ins Leben gerufen. Im Rahmen des Dubai World Congress for Self-Driving Transport wurden vergangenen Oktober die Gewinner gekürt. Das Team Autonomos Labs der Freien Universität Berlin erhielt den mit 200.000 US-Dollar dotierten Preis in der Kategorie Akademische Einrichtungen. Ein weiterer Wettbewerb mit dem Schwerpunkt autonome Logistiksysteme ist angekündigt.
Zwischen Dubais Anspruch und der Wirklichkeit klafft aber noch eine große Lücke. Rund 3,4 Millionen Einwohner, knapp eine Million Pendler aus anderen Emiraten und rund 17 Millionen ausländische Besucher im Jahr lasten das Verkehrssystem aus. Dabei dominiert in Dubai bislang noch der traditionelle Individualverkehr. Nur geschätzte zwölf Prozent des Personennahverkehrs entfielen 2019 auf das öffentliche Metro-, Tram- und Bussystem, das vor allem Arbeitsmigranten aus Asien und Afrika befördert. Die RTA-Statistik zählt allerdings die über 200 Millionen Taxipassagiere ebenfalls zum ÖPNV, damit steigt dessen Anteil auf 18 Prozent.
Große Pläne, wenig Resultate
Bis 2030 soll in Dubai ein Viertel des Personennahverkehrs durch fahrerlose Transportsysteme abgewickelt werden. So will es zumindest die Autonomous Transportation Strategy der Regierung. Dazu gehört vor allem die 2009 in Betrieb genommene fahrerlose Metro, die heute aus drei Linien mit insgesamt 91 Kilometern Fahrweg besteht. Dazu gehört die 2009 in Betrieb genommene fahrerlose Metro, die heute aus zwei Linien mit insgesamt 76 Kilometer Fahrweg besteht. Die dritte, noch nicht eröffnete Linie, ist die 15-Kilometer-Strecke zum Gelände der EXPO 2020, die nun auf 2021/22 verschoben worden ist.
Nach RTA-Angaben hat das Metrosystem 2019 rund 200 Millionen Passagiere befördert, das entsprach sechs Prozent des gesamten Personennahverkehrs. Die Metro soll durch Verlängerung der bestehenden Linien sowie durch neue Strecken massiv erweitert werden. Die Pläne liegen seit Langem vor, aber zur Umsetzung fehlen offensichtlich die notwendigen Gelder.
Dubai will seiner Vision der fahrerlosen Transportsysteme über autonom fahrende Hängebahnen, sogenannte Sky Pods, näher kommen. Im Nachbaremirat Schardscha gibt es bereits eine 400 Meter lange Teststrecke der in Weißrussland ansässigen Firma Skyway, die auf 2,5 Kilometer ausgeweitet werden soll. Anfang 2019 unterzeichnete die Transportbehörde RTA mit Skyway eine Absichtserklärung über den Bau von Sky-Pod-Strecken in Dubai. Eine ähnliche Vereinbarung gibt es auch mit dem US-Unternehmen Skytran. Ob die Projekte laufen und wie es weitergeht, ist allerdings nicht bekannt.
Dubai: Shuttlesysteme von 2getthere
Der niederländische Mobilitätsdienstleister 2getthere, eine Tochter von ZF Friedrichshafen, hat bereits im Jahr 2010 das in den Vereinigten Arabischen Emiraten bisher einzige fahrerlose, nicht schienengebundene Shuttlesystem in Betrieb genommen. Die viersitzigen Pods verkehren in Abu Dhabi auf einer Strecke von 1,4 Kilometern, Startpunkt ist das Masdar Institute for Science and Technology. Auch in Dubai sollen die Niederländer ein Shuttle errichten, das die Insel Bluewaters mit der Metrostation Nakheel Harbour and Tower verbinden soll. Finanzierungsfragen haben das Projekt aber zum Stillstand gebracht.
© Group C GmbH
Die jüngste Absichtserklärung hat Dubai im Februar 2020 mit dem britischen Transportunternehmen Beemcar geschlossen. Nach RTA-Angaben sieht das Beemcar-Projekt fünf Sky-Pod-Loops mit einer Gesamtlänge von rund 50 Kilometern vor. Die viersitzigen Pods sollen im Finanzzentrum, rund um den Burj Khalifa und in Al Wasl verkehren und bis zu 50 Kilometer pro Stunde schnell sein.
Shenzhen: E-Mobilität dank BYD
Asien ist bei neuen Mobilitätsansätzen ganz vorn mit dabei. Der Urban Mobility Readiness Index der Strategieberatung Oliver Wyman platziert gleich sechs asiatische Großstädte auf den ersten zehn Rängen. Die Mobilitätsentwicklung ist rasant. Das zeigt auch das Beispiel Shenzhen.
Vor vier Jahrzehnten war Shenzhen an der Grenze zu Hongkong ein verschlafenes Fischerdorf. Im Jahr 2019 zählte die Stadt rund 13 Millionen Einwohner und gehört, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, zu den wohlhabendsten Regionen Chinas. Selbstbewusst versteht sie sich als die Hochtechnologiemetropole der Volksrepublik, denn sie beherbergt Vorzeigeunternehmen wie den Batterie- und Autohersteller BYD oder den Internetriesen Tencent, der mit seiner Taxi-App Didi die Individualmobilität im Reich der Mitte radikal verändert hat.
Shenzhen: Fahrerbestellung über Didi
Einen Wagen telefonisch bestellen oder herbeiwinken – das machen nur noch Dinosaurier. Ohne die Taxi-App Didi des Onlineriesen Tencent läuft in Shenzhen wie im restlichen Reich der Mitte kaum noch etwas. Der Marktführer bei Fahr- und Taxidiensten zählte 2019 eigenen Angaben zufolge 550 Millionen aktive Nutzer. Wer lieber im eigenen Auto sitzt oder einen über den Durst getrunken hat, kann übrigens auch einen Fahrer ordern. Versicherungstechnisch ist das zwar noch nicht ganz geklärt. Darüber machen sich aber die allerwenigsten Gedanken.
© Didi Press
Die Stadtregierung hat bereits frühzeitig versucht, dem Hightechruf der Metropole gerecht zu werden. So wurde bis zum Jahr 2017 die öffentliche Busflotte mit rund 14.000 Fahrzeugen auf Elektroantrieb umgestellt. Die meisten Modelle stammten von BYD und sollen laut Medienberichten im Anschaffungspreis rund viermal so teuer gewesen sein wie entsprechende Dieselfahrzeuge. Geht es um prestigeträchtige Projekte, spielt Geld in der Volksrepublik oft keine große Rolle. Zusätzlich wurden sämtliche Taxis durch Elektrofahrzeuge, ebenfalls vorzugsweise von BYD, ersetzt.
Subventionen für E-Autos gestrichen
Doch der nächste und entscheidende Schritt, die Umstellung der Privat-Pkw von Verbrennern auf Elektroantrieb, kommt nicht recht voran. Das hat verschiedene Ursachen. So leben die meisten Bewohner in teils riesigen Apartmentkomplexen. Die Garagenkapazitäten sind dort beschränkt und die Besitzer selten bereit, alle Plätze mit Ladestationen und Strommessern auszustatten. Zudem hat die Zentralregierung Mitte 2019 Subventionen für den Kauf von E-Fahrzeugen gestrichen.
Schließlich befindet sich der chinesische Automarkt seit dem Sommer 2018 in einer Dauerflaute. Neuzulassungen und Produktionszahlen gingen sowohl 2018 als auch 2019 spürbar zurück, und auch die für 2020 erwartete Wiederbelebung dürfte infolge der Coronapandemie wohl ausbleiben. Und so fahren nahezu alle Privat-Pkw auf Shenzhens Straßen nach wie vor mit einem Verbrennungsmotor.
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