Nur keine Scheu
Die Dominanz der kalifornischen Techkonzerne im Bereich künstliche Intelligenz macht es Firmen aus dem deutschen Sprachraum schwer, im US-Markt Fuß zu fassen. Wie es klappen kann, zeigt ein Start-up aus der Gesundheitswirtschaft.
Juni 2020
Autor: Heiko Steinacher
Ein Softwareentwickler aus den USA demonstriert bei einer Tagung für künstliche Intelligenz in Hamburg ein selbst gebautes, intelligentes Exoskelett. Mit einer eigens dafür programmierten Sprache namens Meta Bit erzeugt es Töne durch Bewegung. © picture alliance/Axel Heimken/dpa
Was würde es bedeuten, die Zusammenhänge von Gensequenzen und Proteinstrukturen zu verstehen? Eine Menge. Denn dann könnten sich ganz neue Heilungsmöglichkeiten für Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Krebs eröffnen. Es wäre denkbar, Coronavirusproteine zu modellieren und damit womöglich schneller einen Impfstoff zu entwickeln. Genau das könnte die vom Unternehmen Deepmind entwickelte künstliche Intelligenz (KI) namens Alphafold ermöglichen: Sie sagt voraus, wie sich Proteine falten – um ein Vielfaches präziser als andere Computerprogramme.
USA investieren in neue Labore und KI-Start-ups
Deepmind wurde im Jahr 2010 in London gegründet und 2014 von Google übernommen – natürlich einem der Techriesen aus dem Silicon Valley. Denn sie dominieren den KI-Markt. China hat zwar stark aufgeholt, doch die USA gelten in Sachen KI weiterhin als global führend. Google und Co. haben Zugriff auf enorme Datenschätze, sie investieren Riesensummen in neue Labore und Start-ups, sie bauen Rechenleistung und Speicherkapazitäten ständig aus. Zudem entwickeln sie selbst immer häufiger lernende Algorithmen, die aus den vielen Daten Zusammenhänge erschließen können.
Mehr als 400 Anmeldungen für KI-Patentfamilien kommen pro Jahr jeweils von der University of California und der U.S. Navy (Stand: 31. März 2018).
Mehr als 3.000 KI-Patente für maschinelles Lernen haben IBM und Microsoft bisher jeweils angemeldet (Stand: 31. März 2018).
Auf der Gehaltsliste der Techkonzerne stehen viele der weltbesten KI-Forscher. Bereits nach wenigen Jahren Berufserfahrung verdienten sie in den USA schon im Jahr 2017 rund 300.000 US-Dollar oder mehr pro Jahr, wie die „New York Times“ damals berichtete. Das ist etwa das Doppelte dessen, was ein Hochschulprofessor in Deutschland bekommt. Zurzeit trainieren die Internet- und Techkonzerne in den USA wie auch in China ihre KI-Algorithmen darauf, schnell zu erkennen, ob die Probe eines Patienten Anzeichen der Lungenkrankheit Covid-19 aufweist. Google-Tochter Deepmind geht mit ihrer KI Alphafold einen Schritt weiter und baut Coronavirusproteine anhand berechneter Strukturen virtuell nach.
Finanzierungsrunden in Deutschland
Dass Google dabei auf ein Start-up gesetzt hat, ist typisch. Die Techkonzerne treiben ihre KI-Ideen oft in solchen Kooperationen voran. Es gibt einfach viele junge KI-Unternehmen im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, denn die Bedingungen für sie sind günstig. Es gibt zum Beispiel größere Finanzierungsrunden als in Deutschland. Außerdem geht es wesentlich schneller, von der Finanzierung erster Prototypen (Seed-Phase) bis zur sogenannten Series-A-Runde zu kommen, also dem Roll-out, wenn das Start-up bewiesen hat, dass sein Produkt funktioniert. „Das dauert nur etwa halb so lang wie in Deutschland“, sagt Mirko Wutzler, stellvertretender Geschäftsführer des Delegiertenbüros der Deutschen Wirtschaft in San Francisco. Ein weiterer Grund: Die Anlagevorschriften, etwa für Versicherungsfirmen, sind in den USA weniger restriktiv, sodass Start-ups in der Wachstumsphase schneller Kapitalgeber finden.
EU plant Ökosystem für KI
Die Europäer möchten den Rückstand aufholen. „Wir wollen, dass Start-ups in Deutschland und Europa die gleichen Chancen für Wachstum und Finanzierung haben wie ihre Gegenspieler im Silicon Valley“, sagt etwa Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission. In Deutschland hat sich die Bundesregierung vorgenommen, KI stärker zur internationalen Spitzenforschung auszubauen und ihre Ergebnisse noch besser in konkrete Anwendungsfelder der Wirtschaft zu überführen. Ziel ist ein Ökosystem für KI, an dem Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft mitwirken. Außerdem soll ein Digitalfonds es Großanlegern leichter machen, in Start-ups zu investieren. Seine Umsetzung lässt allerdings auf sich warten.
Fördergelder für KI-Forschung in den USA
Im US-Haushaltsentwurf für das Fiskaljahr 2021 sind für die zivile KI-Forschung fast zwei Milliarden US-Dollar vorgesehen. Das wäre mehr als das Doppelte der bisherigen Förderung, doch die Verhandlungen zwischen Demokraten und Republikanern haben erst begonnen. Impulse bekäme dadurch vor allem die Grundlagenforschung. Außerdem soll der Kongress eine Verdopplung der Forschungsausgaben für die Quanteninformationstechnologie auf 850 Millionen US-Dollar genehmigen. Zusätzlich schaffen Fachministerien einen Markt für KI. Allen voran das Verteidigungsministerium, aber zum Beispiel auch das Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste: Es will medizinische Innovationen mithilfe maschineller Lernalgorithmen zur Behandlung und Diagnose der Blutvergiftung fördern. Mit der Neuauflage ihres AI R&D Strategic Plan im Juni 2019 will die US-Regierung KI-Lösungen insbesondere durch Public-private-Partnerships vorantreiben.
Bild: Kanadas Premierminister Justin Trudeau lässt sich am Massachusetts Institute of Technology in Boston „Tega“ erklären, eine KI im roten Pelz, die in Grundschulen zum Einsatz kommen soll. Der Kuschelroboter kann erkennen, wofür Kinder sich interessieren. © picture alliance/AP Images
Riesige KI-Potenziale
Zahlreiche Entwicklungen sind in den USA bereits weit fortgeschritten, insbesondere bei Vorhersageanalysen, intelligenten Assistenzsystemen, Wissensmanagement und autonomem Fahren. Sprachgesteuerte Assistenten wie Siri von Apple oder Alexa von Amazon wurden im Silicon Valley entwickelt. Auch für die Energiewirtschaft und die Chemieindustrie entwickeln die US-Amerikaner zahlreiche KI-Lösungen, etwa um Cyberangriffe frühzeitig zu identifizieren. Mitunter herrscht unter den US-Herstellern bereits ein derart starker Wettbewerb, dass es für deutsche Technologieanbieter schwierig ist, in einige Teilmärkte überhaupt noch zu kommen: wie bei der elektronischen Patientenakte und bei Krankenhausinformationssystemen.
Dennoch ergeben sich auch für deutsche Unternehmen Chancen, auf Augenhöhe mitzuspielen. Etwa bei einer Reihe von Smart-Home-Anwendungen oder zur Unterstützung des Einzelhandels bei der optimalen Steuerung von Lieferketten. In Fahrzeugen ist KI bereits heute standardmäßig in Infotainment-Systemen im Einsatz, vor allem zum Erlernen und Wiedererkennen von Sprache und Gesten, aber auch für Eyetracking.
Künstliche Intelligenz im Agrarsektor
Aufmerksamkeit verdient zudem der Agrarsektor. Dort soll KI helfen, Dünger und Pestizide zu sparen. Der US-Landmaschinenhersteller John Deere setzt sich bereits seit vielen Jahren im Silicon Valley mit der Frage auseinander, wie sich KI mit anderen Hochtechnologien in der Landwirtschaft kombinieren lässt, beobachtet Alexander Conrad. „Im Gegensatz zu vielen deutschen Landmaschinenbauern.“ Der gebürtige Bitburger Conrad hat vor zwei Jahren ein agrartechnisches Ingenieurbüro samt Unternehmensberatung in Redwood City im Silicon Valley eröffnet. „PS und Flächenleistung sind im US-Landmaschinenmarkt nicht mehr allein entscheidend“, davon ist Conrad überzeugt. „Neben erstklassigem Service wird die Bedeutung der Hochtechnologien stark zunehmen.“
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