Krieg in der Ukraine: Harte Probe für weiche Werte
Der Krieg in der Ukraine wird für zahlreiche Unternehmen zur Zerreißprobe. Die einen kehren Russland den Rücken, andere aber bleiben. Die Entscheidung ist nicht nur eine wirtschaftliche – sondern auch eine moralische.
Juni 2022
Autorin: Anna Friedrich, wortwert
Viele Unternehmen haben sich schnell aus Russland verabschiedet, auch weil sie einem ethischen Purpose Genüge tun wollen. Für manche ist es deutlich komplizierter. © Huber & Starke/Getty Images
Der Schokoladenhersteller Ritter Sport, der Landmaschinenspezialist Claas, die Molkerei Ehrmann und der Konsumgüterriese Henkel: Sie alle mussten in den vergangenen Wochen viel Kritik einstecken. Claas betreibt eine eigene Fabrik im russischen Krasnodar, der Kornkammer Russlands. Rund 1.000 Landmaschinen laufen dort jedes Jahr vom Band, erst im Sommer 2020 hat das Unternehmen das Werk noch einmal für rund 13 Millionen Euro ausgebaut. Seit der Grundsteinlegung im Jahr 2005 hat Claas fast 150 Millionen Euro in den Standort investiert.
Und dann kam der Krieg. Der Westen erließ Sanktionen, Russland konterte mit Gegenmaßnahmen. Und zwischen den Stühlen fanden sich Unternehmen wieder, die Geschäfte in Russland machen. Zwar stoppte Claas seine Produktion von Neumaschinen in Krasnodar, doch die Entscheidung war keine leichte. Immerhin ist Russland der viertgrößte Getreideproduzent der Welt – und für Landmaschinenhersteller wie Claas einer der wichtigsten Märkte.
Unternehmen, die jetzt an ihrem Russlandgeschäft festhalten, riskieren damit ihren Ruf. Manche Kritiker werfen ihnen gar vor, Kapital aus der prekären Situation schlagen zu wollen. Der Konsumgüterkonzern Henkel hat lange am Russlandgeschäft festgehalten. Noch Anfang April hatte Henkel-Aufsichtsratschefin Simone Bagel-Trah dem Handelsblatt gesagt: „Die aktuelle Fortsetzung unserer Geschäfte in Russland ist keine Frage des Profits angesichts des schwachen Rubels und der Schwierigkeiten im Land.“ Henkel hatte zwar Werbung, Sponsoring und neue Investitionen im Land gestoppt, hielt die lokale Produktion und den Verkauf aber weiterhin aufrecht.
»Henkel hat entschieden, die Geschäfte in Russland aufzugeben. Die finanziellen Auswirkungen des geplanten Ausstiegs können noch nicht näher quantifiziert werden.«
Henkel
Die Argumentation der Düsseldorfer: Henkel stellt Produkte des täglichen Bedarfs für die Bevölkerung her. Und: „Ein Stopp unserer russischen Geschäfte kann weitreichende Konsequenzen haben. Auch für unsere Mitarbeiter vor Ort“, sagte Vorstandsvorsitzender Carsten Knobel auf der Jahreshauptversammlung Anfang April. Es bestehe die Gefahr, dass die russische Regierung ausländische Unternehmen enteignet – und ihre lokalen Manager persönlich haftbar macht, wenn sie die Geschäfte einstellen. In elf russischen Werken arbeiten 2.500 Menschen. Fünf Prozent des Umsatzes macht das Russlandgeschäft von Henkel aus. Mitte April kam dann die Kehrtwende: Henkel entschied sich, die Geschäfte in Russland aufzugeben. Was das finanziell bedeutet, können die Düsseldorfer noch nicht näher beziffern.
Kunden und Bewerber wollen sinnstiftenden Purpose
Dass sich überhaupt so viele Unternehmen kurzfristig aus Russland zurückgezogen haben, liegt wohl auch daran, dass die Öffentlichkeit von der Wirtschaft immer öfter verlangt, klare moralische Werte zu vertreten. Ein sinnstiftender Purpose (Zweck) ist Pflicht, der Kunden, Lieferanten, Bewerber und Investoren gleichermaßen überzeugt. „Unternehmen haben politische Verantwortung als Corporate Citizens“, sagt zum Beispiel Markus Scholz, Professor für Corporate Governance & Business Ethics an der FH Wien. Eine gewisse moralische Fallhöhe müsste also fast automatisch dazu führen, dass sich Unternehmen den Russlandsanktionen anschließen. Viele Großkonzerne haben genau das getan: Energiekonzerne wie Shell und BP etwa. Aber auch Wirtschaftskanzleien wie Freshfields und US-Lebensmittelketten wie McDonalds‘ und Starbucks haben Russland öffentlichkeitswirksam den Rücken gekehrt.
»Nach Abwägung aller Aspekte haben wir uns entschieden, weiterhin Schokolade nach Russland zu liefern – solange es rechtlich und faktisch möglich ist.«
Ritter Sport
Die Politik muss Grenzen setzen
Und so bleibt etwa Ritter Sport offenbar auch wegen, nicht trotz seiner Unternehmenswerte in Russland. „Als Familienunternehmen tragen wir Verantwortung auch für die im russischen Markt bei Ritter Sport beschäftigten Menschen, und diese würde ein Lieferstopp unmittelbar treffen“, heißt es vom Unternehmen. Das Russlandgeschäft zu stoppen, würde letztlich nicht denjenigen schaden, „die für diesen verheerenden Krieg verantwortlich sind beziehungsweise ihn führen“. Plus: Die Entscheidung für oder gegen ein Engagement in Russland „hätte letztlich auch ernsthafte Auswirkungen auf uns als unabhängiges, mittelständisches Familienunternehmen insgesamt“, argumentiert das Familienunternehmen weiter. „Bis hin zu den Kakaobauern in Westafrika, Mittel- und Südamerika.“ Werbung und Sponsoring gibt es indes nicht mehr in Russland – genau wie künftige Investitionen in den Markt, sagt das Unternehmen.
Zeitenwende in Europa
Die deutsche Wirtschaft ist weltweit vernetzt – auch mit Handelspartnern in politisch schwierigen Staaten. Um diesen Spagat zu schaffen, spricht der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) von einer „verantwortungsvollen Koexistenz“: Länder, die miteinander im Wettbewerb stehen und unterschiedliche Auffassungen zur Gesellschaftsordnung haben – und trotzdem kooperieren. „Grundsätzlich eröffnet die globale Vernetzung unseren Unternehmen Möglichkeiten, nicht nur unsere Güter und Dienstleistungen, sondern auch unsere Werte in die Welt zu tragen“, heißt es vom BDI. Die Zusammenarbeit hat aber auch ihre Grenzen: Eine verantwortungsvolle Koexistenz funktioniert nur nach klaren Spielregeln. „Russland hat die Geschäftsordnung des globalen Miteinanders aufgekündigt“, so der BDI. „Wir sind davon überzeugt, dass nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg nur auf der Grundlage von Frieden, Freiheit und Demokratie erreichbar ist, und sind bereit, unseren Beitrag hierfür zu leisten.“ Statt zu kooperieren, gibt es nur eine unmissverständliche Antwort: umfassende Sanktionen
Der Fahrzeugbauer Daimler Truck kam offenbar mit Blick auf seine Werte zu einer anderen Entscheidung: Die Mercedes-Benz-Tochter hat ihre geschäftlichen Aktivitäten in Russland Ende Februar „bis auf Weiteres“ komplett eingestellt. „Wir stehen für eine friedliche globale Zusammenarbeit und lehnen jede Form von militärischer Aggression kategorisch ab“, sagt ein Sprecher. „Wir beobachten die Situation sehr genau und werden unsere Entscheidung regelmäßig überprüfen.“ Daimler Truck formuliert seine Werte nicht nur prominent auf der Website, sondern hat sogar eine 23-seitige Verhaltensrichtlinie aufgelegt. Darin heißt es unter anderem: „Wir wollen für unsere Kunden fortschrittliche Technologien entwickeln, großartige Fahrzeuge bauen und intelligente Services bieten. Das schaffen wir aber nur, wenn wir ethisch und rechtlich verantwortungsvoll handeln – ganz besonders im Umgang mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie unseren Kunden und Geschäftspartnern.“ In der Konsequenz gab es für den Konzern in Russland also nur einen Weg: raus.
Schwierige Entscheidung für KMU
Wessen Geschäft in Russland nicht ohnehin unter die staatlichen Sanktionen fällt, der hat drei Möglichkeiten: gehen, abwarten oder bleiben. Russlandexperte Knaul von Rödl & Partner rät seinen Mandanten erst einmal zu einer Lagebeurteilung: Wo stehen wir? Sind wir von Sanktionen betroffen? Können wir die Zahlungen aufrechterhalten? Erst dann geht es um den Purpose. Und selbst, wenn sich Unternehmen am Ende entscheiden zu bleiben, sei auch das in Ordnung. „Der Zweck der Sanktionen ist, die Mittel der Kriegsführung einzuschränken. Es geht nicht darum, die Bevölkerung zu bestrafen und zu verarmen.“ Am Ende steht die wirtschaftliche Entscheidung, „aber die ethische muss jeder selbst treffen“, sagt Rechtsanwalt Knaul.
»In Anbetracht der Ereignisse hatten wir am 27. Februar entschieden, mit sofortiger Wirkung unsere geschäftlichen Aktivitäten mit Russland bis auf Weiteres einzustellen.«
Daimler Truck
Vor dieser Herausforderung steht zum Beispiel der Baustoffspezialist Knauf. Die Franken beschäftigen circa 4.000 Mitarbeiter an 14 Standorten in Russland. Hinzu kommen 600 Angestellte in der Ukraine. „Wir haben unverzüglich unsere Betriebe in der Ukraine geschlossen, damit sich unsere Mitarbeiter und deren Familien in Sicherheit bringen konnten“, sagt Geschäftsführer Jörg Schanow. Und in Russland? Da bleibt der Konzern erst einmal. „Wir haben eine soziale Verantwortung für Mitarbeiter sowie Kunden und Lieferanten, die von uns abhängig sind. Wir werden deshalb unser Geschäft in Russland aufrechterhalten, solange und soweit die rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dies zulassen.“ Für das Familienunternehmen stehen „die Mitarbeiter und deren Familien im Vordergrund unserer Überlegungen“.