Februar 2020
Autor: Peter Schmitz
Junge Tunesier feiern den Wahlsieg von Kais Saied in der Innenstadt von Tunis. Der neue Präsident gilt als unerfahren, kaum jemand hatte vor den Wahlen mit ihm gerechnet. © Augustin LE GALL/HAYTHAM-REA/laif
Wahlkampf im Fernsehen, die Debatten wurden live übertragen, Public Viewing inklusive: 26 Kandidaten traten zur Präsidentschaftswahl im Herbst 2019 an. In vielen Ländern der Region blickten die Menschen neidisch auf das Schauspiel in der einzigen arabischen Demokratie, die Autokraten waren skeptisch. Kann es in einem arabischen Land zum wiederholten Male politischen Wandel durch Wahlen geben? Den Sieger hatten vor dem Urnengang die wenigsten auf dem Zettel. Kais Saied galt als wenig charismatisch, und obwohl er vielen Tunesiern durch gelegentliche Fernsehauftritte bekannt war, war er politisch ein unbeschriebenes Blatt.
Tunesien gilt als Vorzeigedemokratie unter den arabischen Ländern. Die „Arabellion“ entzündete sich hier im Dezember 2010, dem Land gelang ein friedlicher Übergang zur Demokratie. Im Taxi, im Café oder am Strand – immer wieder hört man, dass die Tunesier stolz auf ihre Errungenschaften sind. Zu Recht: Innerhalb kurzer Zeit vollzog Tunesien den Übergang von einem autoritären Regime in eine Demokratie, die auch Machtwechsel durch Wahlen unblutig überstand.
Aber die Euphorie ist verflogen. Dem politischen Wandel folgte eine Wirtschaftskrise, die noch nicht überwunden ist. 2015 brach der Tourismus wegen Terroranschlägen zusammen, Streiks und Proteste legten weitere Wirtschaftssektoren lahm. Auch wenn die Touristen inzwischen wieder nach Tunesien strömen, sind die tiefer liegenden strukturellen Probleme täglich spürbar. Die Wirtschaft wächst langsamer als erhofft und vor allem zu langsam, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Zahlen & Fakten
betrug die Arbeitslosigkeit im Jahr 2019. Vor der arabischen Revolution im Jahr 2010 waren es noch 13 Prozent.
soll das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 wachsen. Im Vorjahr waren es magere 1,5 Prozent.
des Bruttoinlandsprodukts machen die Staatsschulden aus. Im Jahr 2010 waren es noch 39,2 Prozent.
Quellen: INS Nationales Statistikinstitut, EIU, IWF
Protestwahl bringt Saied ins Amt
Viele Akademiker suchen ihr Glück derweil im Ausland. Nicht so die 30-jährige Übersetzerin Nour Jenhani. Sie blickt nun etwas optimistischer in die Zukunft, nicht zuletzt wegen des neuen Präsidenten. Saied wurde im Vorfeld der Wahlen auch als Robocop bezeichnet – wegen der monotonen Sprechweise und seiner Law-and-Order-Rhetorik. Er forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe und eine stärkere Rolle des Islams in der Rechtsprechung. Wirtschaft spielte bei seinen Auftritten, wie bei den meisten Kandidaten, kaum eine Rolle. Trotzdem waren es vor allem junge Menschen, die ihn in den Präsidentenpalast wählten.
Für Jenhani ist Saied wie für viele im Land eine integre Person. Das ist, was zählt. Saieds fehlende politische Erfahrung stört dagegen kaum jemanden. „Was haben uns die erfahrenen Politiker gebracht?“, fragt sie. Damit trifft Jenhani einen wunden Punkt: Die Korruption wird von vielen stärker wahrgenommen als unter Diktator Ben Ali. „Früher mussten wir nur eine Familie bezahlen, jetzt sind es Tausende“, heißt es oft. Die Staatsverschuldung steigt rasant, es ist kaum noch Geld für Investitionen vorhanden. Die Arbeitslosigkeit ist höher als vor der Revolution, bei jungen Tunesiern und bei Akademikern liegt sie bei etwa 30 Prozent. Jung und gut ausgebildet zu sein, hilft nicht weiter.
Der Korruption den Kampf angesagt
Viel weiß man nicht über das Programm von Saied. Fakt ist, er steht für den Kampf gegen Korruption und den Bruch mit dem alten Regime. Das hat ihn bei der tunesischen Jugend attraktiv gemacht. Ob er das umsetzen kann, wird vor allem an der Zusammenarbeit mit der Regierung liegen.
Der größere Teil der Bevölkerung blieb den Wahlen jedenfalls fern, die Beteiligung bei den Parlamentswahlen lag bei nur knapp 40 Prozent. Die Erwartungen sind klar: „Wir brauchen keine neuen Gesetze, aber die bestehenden müssen eingehalten werden“, sagt Jenhani. Ob es dazu kommt? Der Handlungsspielraum der neuen Regierung ist nicht allzu groß. Vielleicht liegt darin die Chance.
Schnellcheck
Tunesien: die größten Probleme
Viele Akademiker verlassen das Land. Grundsätzlich gilt das Bildungssystem als Stärke Tunesiens. Um mehr Jobs für sie zu schaffen, müssten sich die Bedingungen für Forschung und Entwicklung verbessern. Außerdem sollte die fachliche Berufsausbildung gestärkt werden. Eine Chance ist der IT-Sektor. Hier gibt es gut ausgebildete Fachkräfte, Dienstleistungen können günstiger angeboten werden als in Europa.
Immer mehr Geld geht in den Schuldendienst. Der IWF drängt seit Jahren auf Reformen. Wie lange das Geld noch fließt, ist fraglich. Eine andere Lösung als Reformen gibt es hier wohl nicht. Inzwischen steigt aber der Druck auf Reformen auch aus der lokalen Wirtschaft heraus. Exemplarisch ist der Energiesektor: Hoch subventioniert ist er Hauptursache des staatlichen Defizits. Investoren klopfen an, klagen aber über lähmende Genehmigungsprozesse.
Service & Kontakt
Ihre GTAI-Ansprechpartnerin für Tunesien
Meike Eckelt
+49 228 249 993 278
Mehr Wirtschaftsdaten, Studien und Analysen zum Land: www.gtai.de/tunesien
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