Mai 2020
Autoren: Hans-Jürgen Wittmann und Kathleen Beger
In Sibirien sind bald sogar die Schneemänner digital: Der Computerschneemann entstand beim jährlichen Stadtwettbewerb Parade der Schneemänner im Central Park von Krasnojarsk. © Ilya Naymushin/dpa Picture Alliance
Ende Januar liegt die sibirische Stadt Krasnojarsk unter einer meterdicken Schicht aus Schnee und Eis. Das Thermometer fällt bisweilen auf minus 27 Grad Celsius. Doch wer eisige Stille sucht, ist hier falsch: In der Metropole am Jenissej entsteht nämlich ein digitales Tal – ein Prestigeprojekt für ganz Sibirien. Schon der Beginn des Projekts war besonders: Statt wie üblich einen Vertrag auf Papier zu unterzeichnen, hinterließen die Gründerväter der Entwicklungsgesellschaft Jenisejskaja Sibir und 30 weitere russische IT-Firmen ihren digitalen Handabdruck auf einem Bildschirm.
Ein Bürogebäude steht bereits, darin ist ein Datenverarbeitungszentrum untergebracht. Der Rest des Areals ist eine Baustelle: Dort entsteht beispielsweise die Wohnanlage Nowoostrowski, in der ab 2021 IT-Spezialisten unterkommen sollen. Auch die Vorbereitungen für den Bau des 36 Millionen Euro teuren Technoparks Renowazia, dem Herzstück des Projekts, nehmen Fahrt auf. Im Jahr 2021 sollen die VR-Arena, eine Cyberplattform für virtuelle Realität, und bis 2023 das digitale Businesszentrum Liner für insgesamt 27,6 Millionen Euro entstehen.
Fachkräftecheck
Konkurrenz aus Sibirien
Russland verfügt über qualifizierte Fachkräfte aus dem sogenannten Mint-Bereich, also Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker. Bei Wissensolympiaden belegen russische IT-Spezialisten regelmäßig die vordersten Plätze. IT-Unternehmen können es nach eigenem Anspruch in Sachen Expertise also durchaus mit der Konkurrenz aus dem Silicon Valley aufnehmen. Um die Experten im Land zu halten, errichtet Russland neue Innovationscluster wie den High Park bei Sankt Petersburg. Zudem entwickelt das Land bestehende Forschungszentren wie die Universitätsstädte Akademgorodok in Nowosibirsk oder Innopolis in der Republik Tatarstan weiter.
Vorbild des digitalen Tals ist das Silicon Valley im US-Bundesstaat Kalifornien. Das sibirische Hightechcluster ist Teil des umgerechnet rund 28 Milliarden Euro teuren Investmentprojekts Jenisejskaja Sibir. Damit will die russische Regierung die Wirtschaft der Region Krasnojarsk sowie der Republiken Chakassien und Tuwa modernisieren. Der Fokus liegt dabei auf Infrastruktur- und Industrieprojekten. Das digitale Tal soll die Entwicklung der Informationstechnologien in den Regionen zusätzlich beschleunigen.
Krasnojarsk könnte also schon bald ein gefragtes Zentrum für IT-Firmen sein. Und dafür sorgen, dass die gesamte Region digitale Technologien stärker nutzt und moderne Informationstechnologien in die Unternehmen Einzug halten. Die Entwicklungsgesellschaft bietet günstige Bedingungen für ansiedlungswillige Unternehmen und IT-Spezialisten.
Mehr als 40 Unternehmen haben bereits Interesse am digitalen Tal bekundet. Neben dem chinesischen IT-Giganten Huawei haben russische Softwareunternehmen wie Maxsoft, Atom oder Social Network ihr Engagement zugesagt. Mit SAP beteiligt sich auch ein deutscher Konzern an dem Projekt und unterstützt die Ausbildung von IT-Spezialisten im Cluster. In einem Next-Gen Lab erhalten Lehrkräfte und Studierende der Sibirischen Föderalen Universität Zugang zu SAP-Lösungen, um zu Themen wie maschinellem Lernen, Big Data, Internet der Dinge (IoT) sowie Smart Citys zu forschen und Lösungen zu entwickeln.
Belarus – digitaler Senkrechtstarter
Nicht nur das rund 6.000 Kilometer von Deutschland entfernt liegende Krasnojarsk entwickelt sich zum nächsten Silicon Valley. Auch unmittelbar vor den Toren der Europäischen Union tut sich einiges, nämlich im belarussischen Minsk. Die Hauptstadt befindet sich auf dem besten Weg zum neuen IT-Mekka. Bereits im Jahr 2005 entstand in der ehemaligen Sowjetrepublik der Hightechpark HTP. Damit will Belarus landesweit Unternehmen fördern, die Technologien für künstliche Intelligenz, autonome Fahrzeugsteuerung, Blockchain, Kryptowährungen und Mining sowie Produkte in den Bereichen Medizin- und Biotechnologie und E-Sport entwickeln.
Ende Dezember 2019 waren 752 IT-Firmen im Hightechpark vertreten. Die meisten haben ihren Sitz im Großraum Minsk, einige kommen aus Städten wie Brest, Gomel und Grodno. Allein im vergangenen Jahr haben sich mehr Unternehmen im Hightechpark angesiedelt als je zuvor. Möglich gemacht hat diese Entwicklung das sogenannte Dekret Nummer 8, das Präsident Aljaksandr Lukaschenka im Dezember 2017 erlassen hatte. Es lockt Ansässige des Hightechparks mit günstigen Lohnnebenkosten, einem reduzierten Einkommensteuersatz von neun Prozent sowie einer Befreiung von Umsatz- und Gewinnsteuer. Das scheint zu wirken: Zuletzt haben sich immer mehr junge Spezialisten selbstständig gemacht und Start-ups gegründet.
IT-Absolventen gibt es in Belarus jährlich (Quelle: HTP Belarus)
mehr Patente und damit insgesamt 35.985 Stück haben russische Unternehmen
im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr angemeldet. (Quelle: Rospatent)
Milliarden US-Dollar investierten der russische Staat und Unternehmen im Jahr 2018 in Forschung und Entwicklung. (Quelle: Unesco Institute for Statistics)
Eigenproduktion statt Outsourcing
Kein Wunder also, dass die Informations- und Kommunikationstechnologiebranche inzwischen auf einen Anteil von 20 Prozent am Export von Dienstleistungen kommt – mit einem Gesamtwert von etwa 1,8 Milliarden Euro im Jahr 2019. Schon jetzt trägt sie zu 5,5 Prozent an der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts bei. Experten erwarten, dass sich dieser Anteil in den kommenden fünf bis zehn Jahren mehr als verdoppeln wird. Es zeichnet sich nämlich eine Trendwende ab: Während Belarus einst vor allem für IT-Outsourcing bekannt war, entstehen mittlerweile immer mehr eigene Produkte im Land. So haben beispielsweise Onlinespiele wie World of Tanks und Apps wie MSQRD, Eightydays oder Flo hier ihren Ursprung.
Interview
Kurzinterview mit Stephan Hoffmann, geschäftsführender Gesellschafter der North IT Group
Was gibt es bei der Unternehmensgründung in Belarus zu beachten?
Die Firmengründung war unkompliziert und schnell – sie dauerte nur zwei Wochen. Die Kosten sind mit der Gründung einer GmbH in Deutschland vergleichbar. Ich habe mir von einem Juristen helfen lassen, der sämtliche Papiere und Dokumente vorbereitet hat. Wer sehr gut Russisch spricht, kann aber auch alles selbst erledigen.
Wie hoch sind die Löhne in der belarussischen IT-Branche?
Große Firmen zahlen IT-Absolventen vergleichsweise niedrige Nettoeinstiegsgehälter von umgerechnet 450 bis 550 Euro pro Monat. Wenn sich die Person bewährt, kann das Gehalt aber schnell bis auf das Vierfache ansteigen. Ein Entwickler mit zehn Jahren Berufserfahrung, der verhandlungssicher Englisch spricht, kann auch bis zu 4.500 Euro verlangen.
Das Land ist demnach in vielerlei Hinsicht interessant für ausländische Investoren. Einer, der diesen Schritt gewagt und ein Unternehmen in Belarus gegründet hat, ist Stephan Hoffmann, geschäftsführender Gesellschafter der North IT Group. Für ihn liegen die Vorteile auf der Hand: Steuervergünstigungen, niedrige Lohn- und Lohnnebenkosten, konzentriertes Know-how. „In Minsk gibt es eine gute Mischung aus erfahrenen und jungen Fachkräften“, sagt Hoffmann. Positiv schätzt er auch das Prozedere der Unternehmensgründung und der Aufnahme in den Hightechpark ein. Verbesserungsbedarf sieht er allerdings im Bereich Buchhaltung, da sie sehr komplex ist und hohe Kosten verursacht.
Auch Deutschland könnte Hoffmann zufolge von Konzepten wie dem Hightechpark profitieren: „Gerade für die strukturschwachen mitteldeutschen Regionen wäre das Modell eine Chance, um junge Fachkräfte aus dem In- und Ausland anzuziehen und der Start-up-Szene neuen Schwung zu verleihen.“
Service & Kontakt
Tagesaktuelle Informationen aus der GUS-Region gibt es bei Twitter: @GTAI_GUS
Kommentare (0)
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!