Schöne alte Welt

Die Weltbevölkerung altert – mit drastischen Veränderungen für ganze Volkswirtschaften. Die Menschen leben länger und konsumieren mehr. Gleichzeitig steigen die Gesundheitsausgaben. Die Konsequenz: Neue Märkte entstehen und damit neue Absatzchancen für deutsche Unternehmen.

Februar 2017
Autoren: Corinne Abele, Alexander Hirschle, Oliver Höflinger, Christina Otte, Michael Sauermost, Bernhard Schaaf, Martin Wiekert

„Die am nächsten zum Himmel gelegene Einkaufsmeile“ nennen Japans Senioren die Jizo Dori Shopping Street, dabei lächeln sie zweideutig. Mitten in Tokio gelegen, im Stadtteil Sugamo, ist sie Treffpunkt für rüstige Rentner. Statt Mangas und den neuesten Smart­phones finden sie hier ihre Lieblingsrestaurants, Tempel und Bekleidungsläden, wobei die mit den roten Unterhosen besonders auffallen.

Derartige Unterhosen werden an Nahestehende im Rentenalter als Glücksbringer verschenkt. Gesundheit steht im Vordergrund: Die Läden werben mit hausgemachten Speisen oder Gebäck ohne Chemikalien und mit wenig Zucker. Am Kanganji-Tempel schrubben die Alten die Togenuki-Buddha­figur, um ihren Schmerz zu lindern.

Ein älterer Herr auf den Straßen Tokios | © pixabay/dewd82

Japan ist das Land, dessen Bevölkerung am schnellsten altert. Laut der Weltbank werden 36 Prozent der Japaner bis 2050 über 65 Jahre alt sein. Doch die Herausforderung einer alternden Gesellschaft ist eine globale. So dürfte der Anteil der über 65-Jährigen an der Weltbevölkerung von heute acht Prozent bis 2050 auf 16 Prozent steigen. Ob in den USA, der größten Volkswirtschaft, in Südkorea, wo es immer mehr Singlehaushalte gibt, in China, wo ein Alters-Tsunami droht, oder bei uns in Deutschland – in beinahe jedem Land wächst der Anteil der Älteren an der Gesellschaft.

Im Jahr 2050 werden 16 Prozent der Weltbevölkerung älter sein als 65 Jahre.

Dies trifft vor allem auf die entwickelten Volkswirtschaften zu, aber auch die Bevölkerung vieler Entwicklungsländer altert heute schneller als früher. Zwar wächst die Weltbevölkerung, gleichzeitig werden aber in vielen Ländern immer weniger Kinder geboren, während die Lebenserwartung steigt. Gründe hierfür sind vor allem der medizinische Fortschritt, eine geringere Kinder- und Müttersterblichkeit, ein Rückgang von körperlich belastenden Berufen und eine effektivere Familienplanung. Zudem wandelt sich das gesellschaftliche Bild von Frau und Familie.

Roboter, Medikamente, Telemedizin

Für Firmen eröffnen sich dadurch neue Perspektiven: So verfügen Ältere häufig über einen reichen beruflichen Erfahrungsschatz. Auch können Unternehmen neue Zielgruppen erschließen, etwa in Medizintechnik und Robotik. Für Ältere in entlegeneren Gebieten werden zudem telemedizinische Dienstleistungen immer wichtiger. Auch die Pharmaindustrie profitiert, wenn die Bevölkerung altert und Krankheiten häufiger werden. Oft geht es aber auch einfach darum, die Produkte an die Bedürfnisse älterer Kunden anzupassen. So muss sich zum Beispiel die Möbelindustrie darauf einstellen, dass Kunden künftig kleinere Möbelstücke wünschen.

Japan: demografische Zeitbombe

Wie dramatisch sich eine alternde Bevölkerung auf Volkswirtschaften wie auch auf Unternehmen auswirken kann, ist schon heute in Japan zu beobachten, wo Medien den Begriff „demografische Zeitbombe“ geprägt haben. Das Land der aufgehenden Sonne gilt als die älteste Gesellschaft der Welt.

Hier gibt es mehr als 65.000 Hundertjährige. Und Japan altert munter weiter: Die Lebenserwartung steigt, und die Geburtenrate sinkt. Die Bevölkerung schrumpft dadurch rapide: Jeder vierte Japaner hat mittlerweile bereits seinen 65. Geburtstag gefeiert. Und dieser Anteil steuert auf 40 Prozent zu. Im Jahr 2060 soll er erreicht sein. Dann wird es nur noch 87 Mio. Japaner geben, 40 Mio. weniger als heute.

1,047

ist die Fertilitätsrate in der Volksrepublik China. Um die Bevölkerung konstant zu halten, wären 2,4 nötig.

70 %

des verfügbaren Einkommens in den USA werden heute von den Babyboomern kontrolliert.

Doch die Regierung will dagegensteuern. Japan soll auch 2060 noch 100 Mio. Einwohner haben. Premierminister Shinzo Abe kalkuliert dies im Rahmen seiner neu aufgelegten Wirtschaftspolitik „Abenomics 2.0“: Die Fertilitätsrate – also die Anzahl der Kinder, die eine Frau durchschnittlich in ihrem Leben gebärt – soll von mageren 1,4 auf 1,8 wachsen, dennoch kann die Alterung der Gesellschaft nicht mehr aufgehalten werden.

In Japan, wo das Senioritätsprinzip in allen Lebensbereichen zu spüren ist, hatten nach Angaben des Ministeriums für innere Angelegenheiten 2015 noch 7,3 Mio. Japaner im Alter von mindestens 65 Jahren einen Job. Das waren mehr als zehn Prozent der Erwerbstätigen. Baustellen werden regelmäßig von Rentnern mit Leuchtstäben abgesichert.

Anteil der Älteren (65+) nach Ländern

Angaben in Jahren | Quelle: Weltbank, Health Nutrition and Population Statistics, Population Estimates and Projections, 2016

Andere Senioren stehen in U-Bahn-Schächten gewissenhaft Spalier. Doch die Alten arbeiten nicht nur viel, sondern sind auch eine wichtige Einnahmequelle: Funktionsnahrung, Fernsehsessel mit Toilettenfunktion, Elektrogeräte mit Riesentasten, Hightechunterwäsche mit kaum spürbaren Sensoren zum Permanent-Check-up – in allen Bereichen geben die Oldies die Richtung vor.

In Convenience Stores gibt es mittlerweile Seniorenecken mit Komplettprogramm vom Blutdruckmessen bis zur Infobroschüre. Und Erwachsenenwindeln sind in den Regalen fast schon Standard. Mit seiner Affinität zu Roboterpflegern schlägt Japan sogar zwei Fliegen mit einer Klappe, denn neben den Senioren wird auch die lokale Industrie gefördert.

Immerhin hat Japan ein Wohlstandsniveau erreicht, auf dem technische Lösungen wie die Stammzellentherapie oder Pflegeroboter überhaupt möglich werden. In China, der bevölkerungsreichsten Volkswirtschaft der Welt, könnte es größere Probleme geben. Das Land könnte altern, noch bevor es reich geworden ist. Bei einer Bevölkerung von 1,4 Mrd. Menschen waren im Jahr 2015 in der Volksrepublik etwa 222 Mio. im Rentenalter, sprich 60 Jahre oder älter. Dies entspricht einem Anteil von 16 Prozent. Und das Land altert rapide weiter.

China vor riesigen Problemen

Um die Bevölkerung einigermaßen konstant zu halten, wäre bei dem sehr ungünstigen Geschlechterverhältnis im Reich der Mitte eine Fertilitätsrate von rund 2,4 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter notwendig. Tatsächlich ist die Quote immer weiter gesunken, und zwar im Wesentlichen aufgrund der Einkindpolitik. Laut amtlichen Angaben ist sie seit dem Jahr 1990 von 2,1 auf 1,2 im Jahr 2015 gefallen. Das wäre eine der niedrigsten Fertilitätsraten der Welt.

»Deutsche Exporteure kommen an den neuen Alten nicht mehr vorbei.«

Christina Otte, GTAI-Redakteurin Asien/Pazifik

Beobachter fragen sich allerdings schon lange, wie angesichts der rigoros durchgeführten Einkindpolitik schon 1990 eine Fertilitätsrate von 2,1 erreicht werden konnte. Sogar die Vereinten Nationen gehen weiterhin von einer surrealen Quote von 1,6 für 2015 aus. Ende Oktober 2016 tauchten erstmals in der angesehenen Wirtschaftszeitung „Di Yi Caijing“ Meldungen auf, dass die Fertilität 2015 nicht bei 1,2 lag, sondern nur noch bei 1,047. Dabei berief sich das Blatt auf amtliche Meldungen auf Basis des Bevölkerungszensus 2015.

Die Presse geriet in helle Aufregung, und einen Monat später fanden sich in der Suchmaschine Baidu schon mehr als eine Mio. Treffer zum Schlagwort „Fertilitätsrate 1,047“. Schon vorher hatte die „Volkszeitung“ gemeldet, die Bevölkerung des Landes werde bis zum Jahr 2100 auf nur noch eine Mrd. sinken, und das, obwohl die Regierung die Einkindpolitik zum 1. Januar 2016 aufgehoben hat.

Ein Renten-Tsunami brandet an

Dass durch die Abkehr von der Einkindpolitik die Geburtenraten steigen, halten Bevölkerungsforscher ohnehin für unwahrscheinlich. Der Demograf Yi Fuxian von der Universität Wisconsin ist der Ansicht, dass die Fertilität aufgrund von Erfahrungen in Südkorea, Japan und Taiwan dauerhaft allenfalls auf 1,3 klettern wird.

Lebenserwartung bei der Geburt

Angaben in Jahren | Quelle: Weltbank, Health Nutrition and Population Statistics, Population Estimates and Projections, 2016

Es ist völlig unklar, wie die Regierung diese demografischen Probleme in den Griff bekommen will. Schon im Jahr 2030 könnten die Alten etwa 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, berichtet das China Research Center of Aging. Ein wahrer Renten-Tsunami wird dann über das Land hereinbrechen. Eine Rentenversicherung gibt es praktisch nicht. Bislang wurde das einigermaßen dadurch kompensiert, dass sich die Jungen um die Senioren kümmerten. Das wird bald kaum noch funktionieren: Dann müssen zwei Junge vier Alte unterstützen. Und 270 Mio. Wanderarbeiter können den Alten in ihren Familien allenfalls rudimentär helfen. Realität und Zukunft der Senioren sehen also düster aus.

Des einen Leid ist des anderen Freud. Die Ausbreitung von Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Bluthochdruck oder Diabetes sorgt zusammen mit der stetigen Überalterung für weiter steigenden Bedarf an Medikamenten und Medizintechnik in China. Von dieser Entwicklung konnten bislang auch deutsche Hersteller und Lieferanten stark profitieren.

Südkorea: Frauenbild im Wandel

Das traditionelle Rollenbild der Frau wandelt sich auch in Asien. Familie und Kinder verlieren an Bedeutung, die Zahl der Eheschließungen sinkt. Besonders ist das in Süd­korea zu beobachten: Neben Japan oder auch Deutschland ist es das Land, das weltweit mit der niedrigsten Geburtenrate und einer stark alternden Bevölkerung zu kämpfen hat. Die Fertilitätsrate im Land der Morgenstille erreichte im Jahr 2015 mit 1,24 einen der niedrigsten Werte im internationalen Vergleich.

Nur 439.000 Babys erblickten 2015 in Südkorea das Licht der Welt. Im Jahr 1980 war die Zahl noch etwa doppelt so hoch. Und das hat eben auch damit zu tun, dass es in Südkorea immer weniger Eheschließungen gibt: 2015 zählte die koreanische Behörde Statistics Korea nur noch 5,9 Hochzeiten pro 1.000 Einwohner, der niedrigste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1970. Seinerzeit lag die Quote noch bei fast zehn Heiraten pro 1.000 Koreaner.

Das liegt an der schwachen Konjunktur und daran, dass immer mehr junge Menschen Schwierigkeiten haben, Arbeit zu finden. Gleichzeitig konzentrieren sich südkoreanische Frauen verstärkt auf ihre berufliche Karriere. In der traditionell strukturierten südkoreanischen Gesellschaft ist eine Ehe häufig noch immer die unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz von Nachwuchs. Wird nicht geheiratet, muss die Geburtenrate zwangsläufig sinken. Der Anteil von Singles an allen Haushalten Südkoreas lag im Jahr 2015 schon bei 27,2 Prozent.