Oktober 2017
Autor: Hans-Jürgen Wittmann
Staat als Gründervater: Russlands Ministerpräsident Dmitri Medwedew gratuliert während der Gründermesse Startup Village den ersten Absolventen des Skolkovo-Instituts für Wissenschaft und Technologie. © picture-alliance/dpa
Egal, ob man ein Taxi bestellt, Geld abhebt oder in sozialen Medien unterwegs ist – russische Start-up-Lösungen sind beinahe überall zu finden. Das Unternehmen Gett, gegründet vom russischen Emigranten Dave „Shahar“ Waiser, vermittelt Taxifahrern Kunden per App. Die russische Sberbank arbeitet an einem System, das es Kunden ermöglichen soll, nur per Gesichtserkennung Geld abzuheben. Und das Start-up FindFace hilft bei der Suche nach Personen im Netz.
Russische Gründer haben sich vor allem mit ihrer hohen Technikaffinität und Kreativität einen Namen gemacht, werden in Deutschland allerdings oft kritisch beäugt. Das liegt vor allem am zweifelhaften Ruf, der russischen Programmierern im Ausland vorauseilt. Viele halten sie für Hacker. Auch deshalb verzichten die Start-ups oft auf das Label „Made in Russia“ – dabei müssten sich die Gründer eigentlich nicht verstecken.
Intelligente Lösungen besonders gefragt
Es gibt viele russische Start-up-Lösungen, die nicht nur den Alltag erleichtern, sondern auch in der Industrie eingesetzt werden. Das Start-up Tau Industries ist ein gutes Beispiel: Das Unternehmen entwickelt gemeinsam mit dem russischen Metallgiganten Severstal eine Technologie, die Emaillestahl produzieren soll. Die Methode sorgt dafür, dass der Stahl sich auch ohne Lösungsmittel lackieren lässt. Das ist günstiger und weniger giftig. Solche intelligenten Lösungen werden in Russland immer beliebter: Das Internet der Dinge könnte der Wirtschaft bis zum Jahr 2025 etwa 50 Milliarden US-Dollar einbringen, schätzen Analysten. Auch deutsche Firmen arbeiten bereits mit russischen Start-ups zusammen: Die Bayer AG und der russische Fonds zur Entwicklung von Internetinitiativen unterstützen gemeinsam Start-ups, die sich auf den Agrarsektor spezialisiert haben. Der Akzelerator Grants4Apps dient dabei als Coworking-Space: Hier arbeiten Gründer an neuen automatischen Lösungen für die Landwirtschaft und tüfteln beispielsweise an optimalen klimatischen Bedingungen in Gewächshäusern. Andere Gründer entwickeln Ideen für die umweltfreundliche Abfallentsorgung. Bayer stellt den Gründern die Infrastruktur im Moskauer Büro und 50.000 Euro Startkapital zur Verfügung.
»Die Resonanz ist sehr ordentlich.«
Viacheslav Gershov ist bei SAP Labs CIS für die Geschäftsentwicklung in Russland und den GUS-Staaten zuständig. Im Interview erklärt er, wie SAP russische Start-ups fördert.
Wie ist SAP mit der russischen Start-up-Szene verbunden?
Wir bringen uns aktiv in die Arbeitsgruppe Start-ups der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer ein. Außerdem organisieren wir eigene Initiativen: Im Juni 2017 haben wir russische Start-ups zu einer Roadshow nach Deutschland eingeladen. Wir haben dabei den SAP IoT Accelerator in Berlin sowie das SAP-Innovationszentrum in Potsdam präsentiert. Dabei konnten die Start-ups das Berliner Ökosystem kennenlernen und sich Investoren vorstellen.
Was ist das Besondere am Accelerator Startup Focus?
Dabei handelt es sich um einen virtuellen Accelerator. Wir bieten Start-ups so Zugang zu unseren Technologien. Die Unternehmen haben sich beispielsweise auf B2B-Standard-IT-Lösungen spezialisiert, aber auch auf autonomes Fahren oder maschinelles Lernen. Außerdem erhalten sie bei uns kostenlos für drei Jahre die SAP-Zertifizierung. Sie können ihre Lösungen damit allen SAP-Kunden weltweit anbieten.
Wie ist die Resonanz auf Ihre Initiativen?
Sehr gut. Wir haben seit der Gründung des Start-up-Focus-Programms im Jahr 2012 etwa 5.600 Anträge von Start-ups weltweit erhalten, von denen wir 925 angenommen haben. Bis dato wurden 260 Lösungen erarbeitet.
Richten Sie Ihr Programm auch gezielt an russische Start-ups?
Ja. Manju Bansal, Vizepräsident und Global Head des Programms, besuchte im Juni 2017 das Startup Village in Skolkovo und verschaffte sich einen Eindruck von der Qualität des russischen Start-up-Ökosystems. Seitdem haben wir zehn Anträge in sechs Wochen erhalten, das ist sehr ordentlich. SAP plant mehr Ressourcen für den Startup Focus in Russland zur Verfügung zu stellen.
© SAP SE
Große Kunden für kleine Start-ups
Einige Start-ups arbeiten aber auch ohne gezielte Förderung eng mit deutschen Unternehmen zusammen. Dazu gehört beispielsweise das Unternehmen Robot Control Technologies. Die Gründer haben sich darauf spezialisiert, über eine Plattform Roboter schnell und effektiv in Fertigungsprozesse zu integrieren. Dafür haben sie Schnittstellen entwickelt, die zwischen unterschiedlichen Programmiersprachen übersetzen. Diese Systeme werden schon jetzt weltweit eingesetzt – der Roboterhersteller Kuka ist bereits Kunde.
Und auch die Gründer des Start-ups WiseSoil haben schon namhafte Kunden: Das Unternehmen entwickelt Lösungen, die dabei helfen, organische Abfälle in Biogasanlagen effizienter zu verbrennen. Diese spezielle Technologie, die jeder Betreiber von Biogasanlagen installieren kann, erhöht den Ertrag aus der Abfallverbrennung. Das System ist bereits in Deutschland im Einsatz: Der deutsche Biogasanlagenhersteller Schmack ist Kunde von WiseSoil. Auch institutionell arbeiten russische Start-ups und deutsche Unternehmen immer enger zusammen. Ein Beispiel: Die Deutsche Messe kooperiert zukünftig mit dem Skolkovo-Fonds, der Start-ups unterstützt, die sich mit Energieeffizienz, Biomedizin oder Raumfahrttechnologien befassen. Das Ziel: Gründer aus beiden Ländern sollen stärker gefördert werden und sich austauschen können, beispielsweise im Rahmen der IT-Messe Cebit Hannover. Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer (AHK) in Moskau hat im Herbst 2016 dazu die Arbeitsgruppe Start-ups gegründet. In diesem Jahr organisiert die AHK eine Roadshow mit russischen Start-ups in Deutschland. siehe Seite 19 Das hat für beide Seiten Vorteile: So können deutsche Unternehmen Kontakte zu innovativen Start-ups knüpfen, während die russischen Gründer ihre Lösungen auch auf ausländischen Märkten anbieten können.
Russische Start-ups
Tubenburger, Drohnen und Klempnerbörsen
EATTUBE
Das Start-up aus Sankt Petersburg entwickelt Kosmonautennahrung für Otto Normalverbraucher. Für die Mahlzeit zwischendurch stehen Burger oder Käsekuchen aus der Tube zur Verfügung. 10.000 Tuben pro Tag will das Start-up verkaufen, dafür sind Kooperationen mit Tankstellenketten geplant. Auch auf ausländischen Märkten soll das Essen angeboten werden. Grund: Experten kritisieren, dass russische Verbraucher bei ihrem Essverhalten zu konservativ sind und rechnen deshalb mit geringem Wachstumspotenzial.
JETSMARTER
Das 2012 von Sergej Petrossov gegründete Start-up hat sich auf die Onlinevermittlung von Flügen in Privatjets spezialisiert. Als Zielgruppe des selbst ernannten „Ubers der Lüfte“ kommen nicht nur russische Oligarchen in Betracht: Saudische Investoren und sogar der US-Rapper Jay Z haben bereits in das junge Unternehmen investiert. Für einen Mitgliedsbeitrag von 11.000 US-Dollar pro Jahr können 6.700 betuchte Kunden Flüge auf Privatjets buchen. Die 1.000 Topklienten geben dabei jedes Jahr etwa 140.000 US-Dollar aus.
ATEnergy
Seit 2012 entwickelt das Start-up Energiesysteme für Drohnen, die in der Taiga und Tundra Pipelines kontrollieren. Das Unternehmen verfügt über Technologien, um Energie mit Brennstoffzellen zu gewinnen. Mit dieser Methode können die Drohnen auch bei widrigen Witterungsbedingungen länger in der Luft bleiben. Auf der Konferenz „Startup Village“ hat AT Energy eine Zusammenarbeit mit der Linde Group vereinbart. Der deutsche Hersteller von Industriegasen liefert Wasserstoff, der die Drohnen antreibt.
PROFI_RU
Wenn die Toilettenspülung nicht funktioniert oder die Heizung leckt, kommt die Plattform www.profi.ru ins Spiel. Die Seite vermittelt vor allem Handwerksdienstleistungen – in drei Schritten ist der Elektriker, Installateur oder Klempner bestellt. Aber auch Tutoren, Sprachlehrer und Stylisten sind über das Portal zu finden. Das System beruht vor allem auf Bewertungen. Über 3,3 Millionen Kunden haben die Dienstleistungen bereits genutzt und sich einen Profi vermitteln lassen. Im Jahr 2013 lag der Umsatz bei 200 Millionen US-Dollar.
ZakaZaka
Der zweitgrößte Onlinelieferservice Russlands bringt rund um die Uhr fertige Mahlzeiten und Lebensmittel. Die 100-prozentige Tochter der Mail.ru-Gruppe, die auch Anteile am Marktführer Delivery Club hält, bietet eine breite Auswahl an Speisen und Getränken aus insgesamt bis zu 2.600 Partnerrestaurants an. Über eine App können Kunden mit drei Klicks online bestellen und erhalten die Lieferung frei Haus. Im ersten Quartal 2017 verdiente das Start-up aus Sankt Petersburg etwa 570.000 Dollar.
Finanzierung gestaltet sich schwierig
Wie in vielen anderen russischen Branchen kämpfen die meisten Start-ups mit ihrer Finanzierung. Startkapital ist nur schwer zugänglich, staatliche Förderung leidet an einem Übermaß an Bürokratie und Regulierung. Bankkredite sind keine gute Alternative, weil sie aufgrund hoher Zinsen nahezu unerschwinglich sind. Es gibt kaum private Geldgeber, und auch strategische Investoren lassen sich an einer Hand abzählen. Damit bleibt für viele Start-ups als letzter Ausweg ein Risikokapitalfonds.
Immerhin gibt es auch gute Nachrichten: Ausländische Unternehmen investieren immer häufiger in russische Start-ups. So erhält das Start-up Playkey vom deutschen Dienstleister Darz 1,5 Millionen US-Dollar. Das russische Unternehmen ist darauf spezialisiert, Spiele mit einem hohen Datenvolumen auch auf schwächeren Computern zum Laufen zu bringen.
Auch die Raiffeisenbank hat das Potenzial russischer Start-ups erkannt und Pilotprojekte mit drei Unternehmen gestartet, die einen Wettbewerb der Bank gewonnen hatten. So möchte die Bank größere Datenmengen verarbeiten und zukünftig neue, digitale Angebote in ihr Produktportfolio integrieren.
Um die junge Generation für Start-ups zu begeistern, arbeitet die russische Regierung an einer Roadmap zur Unterstützung des „technologischen Unternehmertums“ in Universitäten. Das Budget soll rund 3,1 Millionen Euro betragen. Das soll die Start-up-Infrastruktur stärken und Studenten ermöglichen, an Akzeleratorprogrammen teilzunehmen. Fünf Hochschulen, unter anderem die staatlichen Universitäten in Moskau, Nowosibirsk und Tomsk, sollen mit je rund einer halben Millionen Euro starten.
Bisher klappt das ganz gut: Die Entwickler von Useful Robots LLC sind ein gutes Beispiel für den Gründergeist der Jugend. Das von ihnen entwickelte Exoskelett wird am Körper befestigt und ersetzt einen Stuhl. Vor allem für Arbeiter, die lange an Fließbändern arbeiten müssen, ist das hilfreich: Werden sie müde, können sie sich kurz auf die Konstruktion setzen und erholen. Die nur drei Kilogramm schwere Erfindung bietet dabei eine stabile Unterlage, benötigt weniger Platz als ein Stuhl und ist in Windeseile aufgestellt. Es ist eine typische russische Start-up-Idee: unkonventionell, pragmatisch – und enorm hilfreich im Alltag.
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