Dezember 2019
Interview: Gerit Schulze
Welche Auswirkungen haben die Rohstoffprojekte in der Arktis für das dortige Ökosystem?
Bei der Förderung und dem Transport von Öl droht eine Verschmutzung des Wasserbeckens und der Uferzonen. Wenn ein Tanker durch das arktische Meer fährt, kann er von Eisschollen durchlöchert werden und Leck schlagen. Die Region ist kalt, das Erdöl zersetzt sich sehr langsam. Bei eisiger Kälte lässt sich das Öl nur schwer beseitigen. Auch 30 Jahre nach dem Unglück des Tankers „Exxon Valdez“ ist die Küste vor Alaska noch mit Öl verschmutzt.
Was erwarten Sie für die arktischen Festlandgebiete?
Dort tritt bei den Lagerstätten in Westsibirien oder im Autonomen Kreis der Nenzen schon jetzt Öl aus. Hinzu kommt die Zerstörung der Landschaft durch die industrielle Erschließung mit Straßen, Stromleitungen, Gas- und Ölpipelines. Das erhöht die Brandgefahr, lässt Wilderer in die Gebiete eindringen. Immer häufiger brennen dort Torffelder. Wir beobachten, dass sich Ruß auf dem Eis ablagert und dieses dadurch schneller schmilzt. Es gibt also sehr viele indirekte Effekte durch die Erschließung der arktischen Regionen. Außerdem werden die traditionellen Weiderouten der Tiere durchschnitten. Für die Rentiere bedeutet jede Gasleitung ein Hindernis. Die Übergänge werden häufig nicht da gebaut, wo die Tiere entlanglaufen. Bei der Ölförderung ist das Abfackeln des Begleitgases ein großes Problem. Dabei entstehen Ruß und giftige Stoffe.
Was passiert mit den indigenen Völkern bei einer zunehmenden industriellen Erschließung der Region?
Der Bau von Öl- und Gasleitungen, Straßen und Eisenbahngleisen zerstört die Landschaft und die traditionellen Wege der eingeborenen Völker. Sie leiden auch unter Wilderern. Denn neue Straßen bringen neue Leute in die Regionen. Die jagen Rentiere, fangen Fische, legen Feuer. Nur kleine Völker bis maximal 50.000 Angehörige haben das Recht, ihre Ressourcen selbst zu kontrollieren und Kompensationsleistungen zu bekommen. Doch das Gesetz über die Bodenschätze ist stärker. Wenn ein Unternehmen eine Lizenz zur Förderung von Rohstoffen bekommt, verlieren die indigenen Völker ihr Vetorecht. Immerhin müssen die Unternehmen sie anhören und den Menschen Entschädigungen für Eingriffe in die Landschaft zahlen. Aber es gibt keine Verfahren, wie man den entstehenden Schaden bemessen kann. Normalerweise läuft das so: Ein Unternehmen will eine Leitung verlegen und sagt, ich gebe Dir 100.000 Rubel oder ein Schneemobil. Sie bekommen die Unterschrift und können loslegen. Die Urbevölkerung kennt in der Regel ihre Rechte und die russische Sprache nicht. Deswegen stehen sie unter großem psychischen Druck.
Russland will die Nordostpassage verstärkt für den Schiffsverkehr nutzen. Ist das ökologisch sinnvoll?
Den Transport von Öl, Gas und Kohle auf der Strecke finden wir schlecht, weil er dem Klima schadet. Wenn es um andere Frachttransporte geht, um Elektronik und Konsumgüter aus China nach Europa und umgekehrt, dann ist Greenpeace nicht gegen die Entwicklung dieses Transportweges. Dabei sollte aber Schweröl verboten werden und stattdessen emissionsärmere Treibstoffe wie LNG oder Elektromotoren zum Einsatz kommen. Außerdem dürfen auf der Strecke keine Einwand-Tanker fahren. Russland hat zwar eine entsprechende Konvention unterschrieben und will in der Arktis nur Doppelhüllenschiffe einsetzen. Aber es gibt bei uns immer sehr viele Ausnahmen.
Lohnen sich in der Arktisregion alternative Energiequellen?
Ja, und zwar in den Dörfern, die nicht an die zentralen Versorgungsleitungen angeschlossen sind. Sie bekommen jedes Jahr über das Meer und die Flüsse Kohle und Dieselkraftstoff angeliefert, um zu heizen und Strom zu erzeugen. Dafür muss der Staatshaushalt nach verschiedenen Schätzungen bis zu 100 Milliarden Rubel Subventionen pro Jahr aufbringen. Die Selbstkosten für eine Kilowattstunde Strom liegen dort bei 50 bis 60 Cent. In solchen Fällen lohnen sich erneuerbare Energiequellen wie Windräder oder Solaranlagen. Die Dieselgeneratoren in den abgelegenen Gebieten verbrauchen ungefähr 10 Millionen Tonnen Dieselkraftstoff im Jahr. Davon könnten 40 Prozent eingespart werden. Da, wo es bereits einen Anschluss an das zentrale Stromnetz gibt, haben erneuerbare Energiequellen ohne Subventionen keine Chance, weil die Preise für konventionellen Strom zu niedrig sind.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine Alternative zur Erschließung der Arktis?
Wir finden es nicht notwendig, dort in die Ölförderung und in eine große Atomeisbrecher-Flotte zu investieren. Das Geld sollte besser in Energieeffizienz gesteckt werden. In den Polarregionen leben vielleicht zwei Millionen Menschen, aber im Rest des Landes über 140 Millionen Menschen. Dort schlummert ein riesiges Einsparpotenzial bei der Energienutzung von 40 Prozent. Wenn wir die arktischen Ölfelder erschließen, dann bekommen wir schnelle Petrodollars, können die Renten weiter bezahlen und alles ist gut. Wenn wir aber in Energieeffizienz investieren, bekommen wir langfristig eine moderne Infrastruktur, neue Technologien und Arbeitsplätze dort, wo die Menschen jetzt leben. Wir wissen nicht, wie lange die Welt überhaupt noch in diesen Mengen Öl nachfragt. Laut einigen Szenarien könnte China schon 2030 den Höhepunkt seines Ölbedarfs erreichen. Aber die Investitionszyklen bei den Öl- und Gasfeldern dauern 40 oder 50 Jahre. Was passiert, wenn der Ölpreis plötzlich wieder sinkt oder die Geopolitik sich ändert? Häfen, Flughäfen, Straßen und Städte müssen weiter unterhalten werden. Und das wird riesige Kosten verursachen.
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