August 2019
Autorin: Annika Pattberg
© Kammann Rossi/Verena Matl
Im April regnete es durch ein Leck ins britische Unterhaus. Das denkmalgeschützte Gebäude, in dem die Brexit-Debatten stattfinden, gilt schon lange als marode und außerdem stark brandgefährdet. Viele sehen das Feuer von Notre-Dame als Warnung, die überfällige Restaurierung für mehrere Milliarden Euro endlich anzugehen. Doch die Sanierung kommt nicht voran. Damit steht das marode Parlamentsgebäude sinnbildlich für den Zustand des ganzen Landes.
Ob und wie der aktuell für den 31. Oktober 2019 geplante Brexit tatsächlich stattfindet, ist unklar. Klar ist aber: Das seit drei Jahren anhaltende Chaos kommt das Vereinigte Königreich schon jetzt äußerst teuer. Schon lange verzeichnet die britische Volkswirtschaft deutlich negative Auswirkungen auf Konjunktur, Investitionen, Produktion und Konsum. Zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) hätten die Briten bereits wegen der enormen Unsicherheiten seit dem EU-Referendum eingebüßt, schätzt Gertjan Vlieghe, hochrangiger Berater der Bank of England. Dies entspricht einem BIP-Verlust von umgerechnet 44,7 Milliarden Euro pro Jahr oder 894 Millionen Euro pro Woche.
Auch viele andere haben die bisherigen Kosten des noch nicht umgesetzten Brexits berechnet. Doch keine Aufstellung erfasst das komplette Ausmaß des bisherigen Übels. So bindet der Brexit seit Jahren sämtliche Kapazitäten in London – und nicht nur dort. Alles andere bleibt liegen. Totaler Reformstau. Nach der Gründung des Brexit-Ministeriums wurden in sechs weiteren Londoner Ministerien mehr als 14.000 hochbezahlte neue Brexit-Stellen vor allem mit Mitarbeitern aus anderen Ressorts neu besetzt. Die Suche nach weiteren Austrittsexperten hält an. Auf der ganzen Insel dürfte es kaum einen Staatsbediensteten geben, dessen Arbeit nicht irgendwie von den Brexit-Auswirkungen betroffen ist. Viele sind frustriert. Und erschöpft. Noch nie haben so viele Minister und Staatssekretäre das Handtuch geworfen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik und in den Staat ist auf dem Nullpunkt. Diese Kosten kann niemand beziffern.
BRANCHENCHECK
Wem die Brexit-Debatte schadet
Automotive
Der noch nicht umgesetzte Brexit hat den wichtigsten Industriesektor der Briten bereits völlig ausgebremst. In den ersten vier Monaten 2019 lag die Autoproduktion 22 Prozent unter dem Vorjahresniveau. 2018 war die Produktion bereits um neun Prozent gegenüber 2017 gefallen.
Bauwirtschaft
Die britische Baubranche dürfte 2019 um 0,4 Prozent einbrechen. Der Bürobau sogar um elf Prozent. Der Sektor baute bisher auf ost- und südosteuropäische Mitarbeiter. Doch sie meiden aufgrund des schwächeren Pfund Sterling die Insel.
Gesundheit
Auch das staatliche Gesundheitssystem NHS ist auf Personal aus dem EU-Ausland angewiesen. Zu Redaktionsschluss suchte NHS allein für England und Wales 20.000 Mitarbeiter, darunter 9.000 Krankenschwestern.
»Beim Kontakt mit britischen Geschäftspartnern ist es empfehlenswert, das B-Wort zu vermeiden. Am besten einfach nur zuhören.«
Robert Scheid,
GTAI-Korrespondent London
Investitionen sinken, der Ruf leidet
Wer die Zukunft nicht kennt, investiert nicht in sie. Der Dachverband der britischen Handelskammern schätzt, dass die Unternehmensinvestitionen 2019 um 1,3 Prozent unter dem Vorjahresniveau liegen werden. Bereits 2018 waren die Business Investments in allen vier Quartalen im Vergleich zum Vorquartal gesunken. Finanzminister Philip Hammond gibt zu, dass die Reputation des Landes leidet. Einige Unternehmen haben ihre Zentralen in andere Länder verlagert, Firmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals teure Notfallpläne ausgearbeitet. Aufträge für den Geschäfts- und Bürobau brachen ein. Aus britischen Fabriken rollen immer weniger Autos.
Dieses Chaos, englisch: mayhem, schickte auch die britische Währung auf Talfahrt. Das schwache Pfund Sterling trieb die Preise in die Höhe und drückte so die Reallöhne. Unter all dem leidet besonders die ärmere Bevölkerung. Laut den Vereinten Nationen gilt jeder fünfte Brite als arm. In der aktuell noch fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt wird das Thema Armut auch angesichts der geringen Arbeitslosigkeit oft unterschätzt. Aufgrund der niedrigen Löhne können nicht wenige Briten trotz festem Job ihre Familien nicht ernähren und nehmen Kredite auf. Die Verschuldung der Haushalte war nie höher als jetzt. Hinzu kommt: Nach der Finanzkrise hatte der damalige Finanzminister George Osborne viele Sozialleistungen gekürzt. Das war gut gemeint, um das Haushaltsdefizit zu senken und künftige Generationen zu schützen, doch es rächte sich bitter: Die schlechte Lage der ärmeren Bevölkerung, die sich benachteiligt und vergessen fühlt, gilt als Hauptursache für das Brexit-Votum.
der britischen Bevölkerung, also jeder Fünfte, lebt laut den Vereinten Nationen in Armut. Die Zahl der Suppenküchen hat zuletzt stark zugenommen
der britischen Warenimporte stammen aus Deutschland. Auch nach dem EU-Referendum bleibt Deutschland wichtigster Warenlieferant der Briten.
britische Unternehmen siedelten sich 2018 in Deutschland an, ein neuer Rekord. Bei fast der Hälfte der Vorhaben war der Brexit einer der Entscheidungsgründe.
Quelle: Vereinte Nationen, Nationales Statistikamt (ONS), GTAI
Vor dem Referendum wurde die hohe Zuwanderung aus anderen EU-Ländern stark kritisiert. Das Thema Freizügigkeit ist auch weiterhin Thema vieler Brexit-Debatten. In dem Referendum selbst stimmten nicht die Orte mit einer hohen Ausländerquote für den Brexit, sondern Orte, in denen sich die Anzahl der Zuwanderer innerhalb kurzer Zeit sehr stark erhöht hatte. Menschen haben Angst vor Veränderung. Die Migranten, die einigen in den vergangenen Jahren als Sündenböcke für viele Probleme dienten, werden von nicht wenigen schmerzlich vermisst: Baufirmen klagten schon kurz nach dem Referendum, dass sich ihre osteuropäischen Mitarbeiter nicht mehr willkommen fühlen und fernbleiben. Dem Gesundheitssystem NHS, das bisher auf billiges Personal aus anderen EU-Staaten setzte, droht nach dem Aderlass der Kollaps.
Wichtige Großprojekte stagnieren
Das Land bräuchte dringend sämtliche durch den Brexit blockierte Kapazitäten, um altbekannte Großbaustellen anzugehen. Die Liste der dringend notwendigen Projekte, an denen sich auch deutsche Firmen gut beteiligen können, ist lang. Das umgerechnet 63 Milliarden Euro teure Schienenprojekt High Speed 2 (HS2), das London mit Birmingham und weiter mit Leeds und Manchester verbinden soll, könnte Brexit-bedingt nach der ersten Bauphase gestoppt werden. Dabei sollte HS2 einen Ausgleich für den weniger entwickelten Norden Englands schaffen. Dort, wo überdurchschnittlich viele Bürger aus Protest an ihrer misslichen Lage für einen EU-Austritt sind.
Nicht wenige Briten schämen sich übrigens für die aktuellen Geschehnisse. Auch darum sollte man das Brexit-Thema bei neuen Geschäftskontakten nicht von sich aus anschneiden. Zum Glück geht es viel einfacher: Noch nie haben sich so viele britische Firmenvertreter einfach nur über ein nettes Wort von ihren deutschen Geschäftspartnern gefreut wie jetzt zu Brexit-Zeiten.
Kommentar: »Brücken bauen«
Annika Pattberg war von 2014 bis 2018 GTAI-Korrespondentin in London.
Drei Jahre nach dem EU-Referendum sind nicht nur auf der britischen Insel viele frustriert. Einige mögen das B-Wort nicht mehr hören. Darum bekommt man in Deutschland auch kaum etwas davon mit, wie die sogenannten Remainer für einen Verbleib in der EU kämpfen. Ob sie Erfolg haben werden, ist fraglich. Zu Redaktionsschluss galt sogar ein Brexit ohne Abkommen als sehr gut möglich.
52 Prozent der Bevölkerung hatten 2016 für den EU-Austritt gestimmt, 48 Prozent dagegen. Drei Jahre später sind die Fronten sogar noch verhärteter. Ein Zurück auf den Ursprungszustand wird es nicht geben, im Gegenteil: Unter anderem der Erfolg des Erz-Brexiteers Nigel Farage bei der EU-Parlamentswahl deutet darauf hin, dass der Tiefpunkt in einer der ältesten Demokratien der Welt noch nicht erreicht ist. Wird der Brexit umgesetzt, dürfte ein Referendum der EU-freundlichen Schotten folgen.
Für den Brexit gestimmt hat vor allem die Bevölkerung in den ländlichen, ärmeren Regionen. Diese Menschen wissen wenig über die EU, sie wählten beim Referendum in erster Linie Protest an ihrer misslichen Lage. Nach den dreijährigen Diskussionen in Westminster geht es diesem Teil der Bevölkerung nicht besser, sondern schlechter.
Wie geht man als deutsches Unternehmen in Brexit-Zeiten mit seinen britischen Geschäftspartnern um? Egal, wie viel Extraarbeit man selbst in Notfallpläne gesteckt hat: Keep calm. Firmen auf der anderen Seite des Ärmelkanals leiden noch viel mehr unter der Unsicherheit als die auf dem Kontinent.
Ja, es gibt sie, die Dysons und die Wetherspoons: Britische Unternehmen, die vehement den Exit befürworten, weil sie sich neue Handelsverträge mit Asien erhoffen oder Souveränität über alles stellen. Doch die Mehrheit der britischen Wirtschaft ist weiterhin gegen den Brexit. Zu Redaktionsschluss kämpften britische Wirtschaftsverbände weiter für stabile Verhältnisse.
Helfen kann ein Blick zurück zum Ursprung der EU: Gerade für Deutschland war die Gründung der damaligen Montanunion ein Neubeginn nach dem Krieg, mit viel Hoffnung verbunden und nicht zuletzt mit Frieden. Nun haben deutsche Unternehmen die Möglichkeit, symbolisch die Hand auszustrecken. Das B-Wort muss dabei gar nicht fallen. Die Technische Universität München geht noch einen Schritt weiter und verstärkt ihre Kooperation mit dem Londoner Imperial College. Wissenschaft und Wirtschaft haben gerade jetzt eine Brückenfunktion.
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