Oktober 2019
Autor: Sherif Rohayem
Gleich nach meiner Landung in Istanbul bekam ich in der Wechselstube die Lira-Krise zu spüren – allerdings von ihrer angenehmen Seite. Bei einem Kurs von sechs Lira gegenüber dem Euro gehörte ich zu den Krisenprofiteuren. Ein schlechtes Gewissen bereitete mir der Geldtausch aber nicht, handelte es sich doch um einen sogenannten Stützungskauf: Genau diesen hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan zuvor von seinen Landsleuten gefordert, um einen Absturz der türkischen Währung zu verhindern. Er appellierte an die „Brüder mit den Dollar und Euro unter dem Kissen“, diese in Lira umzutauschen.
Auch die türkische Bekleidungsindustrie zählte ich zunächst zu den Krisengewinnern. T-Shirts, Hosen und Hemden konnte sie nun zu Schleuderpreisen auf den Weltmarkt bringen – und mit den Devisen aus ihren Exporten ihre Stoffe ohne Wechselkursverluste im Ausland kaufen. Allerdings hatte die türkische Regierung andere Pläne. Denn wertvolle Euro- und Dollarnoten sollten weder unter türkischen Kissen noch im Ausland liegen. Um zu verhindern, dass Exporteure ihre Devisenerlöse im Ausland parken, reaktivierte die Regierung ein altes Dekret aus dem Giftschrank der Krisenmaßnahmen. Es zwingt Exporteure, ihre Auslandserlöse in die Türkei zu holen und in Lira umzutauschen.
© delihayat, Guven Polat, visualspace, Jörg Schneider/Kamman Rossi
Dieses Vorurteil stimmt
Die Türkei ist eine Hochburg für Produktpiraterie und auch sonst sind hier Waren erhältlich, die in Deutschland eher auf Umwegen zu bekommen sind. Der Weg in den Istanbuler Stadtteil Galata etwa führt durch eine Unterführung mit vielen Verzweigungen. Dort bieten Händler im grellen Neonlicht gefälschte Prada-Taschen und echte Waffen an. Auch Pflanzengift und Alltagskitsch finden sich in den Auslagen. Am anderen Ende der Unterführung bestätigt sich ein weiteres Vorurteil: Das Narrativ vom jungen, konsumfreudigen Türken ist nicht nur die Idee türkischer Standortvermarkter. In den Vierteln Galata, Karaköy und Kadiköy reiht sich Café an Restaurant an Bar an Eisdiele – und das Ganze noch einmal von vorn. Krisenstimmung? Fehlanzeige!
In den konservativen und weniger wohlhabenden Vierteln Eminönü und Fatih sieht es ähnlich aus. Dort haben die Menschen zwar weniger Geld. Doch für teure Waren erhalten sie Verbraucherkredite, die die Banken sehr großzügig vergeben. Und zur Bestreitung des Alltags gibt es ja noch die Schwarzarbeit: etwa der Mechaniker, der das Auto vom Freund eines Bekannten repariert, oder der Lehrer, der in der Nachbarschaft Nachhilfe gibt. Man kennt sich und man hilft sich.
Diese Konsumlust dürfte sich die Regierungspartei zunutze gemacht haben. Wenige Monate vor den Kommunalwahlen im Frühjahr beschenkte die Regierung ihre Bürger mit Steuersenkungen. Nach dem Motto: „Kleine Autos für den kleinen Mann“ senkte sie die Verbrauchsteuer auf Pkw mit einer Hubraumgröße von 1,4 bis 1,6 Litern. Seit der zweifachen Niederlage der Regierungspartei AKP ist bekannt, dass in Istanbul diese Strategie nicht aufging.
»In Istanbul reihen sich Café an Restaurant an Bar an Eisdiele. Krisenstimmung? Fehlanzeige!«
Sherif Rohayem,
GTAI-Korrespondent Kairo
Sherif Rohayem berichtet in Kairo über den ägyptischen Markt. Zuvor hatte er bei GTAI das Wirtschaftsrecht der MENA-Staaten behandelt. „Vor Ort in … Istanbul“ entstand bei einer einmonatigen Recherchereise in die Türkei.
Das ist made in Germany
Auch die Türken haben eine Schwäche für die üblichen Verdächtigen aus Deutschland – und zwar für Maschinen. Deutsche Anlagen sind erst ab einer bestimmten Stufe der Fertigungstiefe sinnvoll. Die türkische Nachfrage ist insofern Ausdruck eines fortgeschrittenen Entwicklungstands, den gerade die Textil- und Bekleidungsindustrie erreicht hat. So zählt die Türkei zum Beispiel nach China und Indien zu den wichtigsten Absatzmärkten für deutsche Textilmaschinen. Der Mitarbeiter eines schwäbischen Herstellers für Rundstrickmaschinen schwärmte im Gespräch mit mir von der Türkei als „Boommarkt“.
Seit dem Streit mit den USA im Sommer 2018 um den in der Türkei festgehaltenen US-Pastor Andrew Brunson sei dieser Absatzmarkt aber eingebrochen. Diese Einschätzung spiegelt auch die Kursentwicklung der Lira wider. Zwar begab sich die Währung bereits vor mehreren Jahren auf Talfahrt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit den USA im August und September vergangenen Jahres stürzte die Lira noch einmal besonders tief. Mein schwäbischer Gesprächspartner erklärte mir, dass eine sanfte Erholung des Türkeigeschäfts zwar in Aussicht sei. Da aber auf beiden Seiten des Atlantiks impulsive Akteure am Werk seien, bleibe die politische Unsicherheit. So lässt sich auch in der Weltwirtschaft der Schmetterlingseffekt erkennen. Statt eines Flügelschlags genügt hier ein Tweet von US-Präsident Donald Trump, um unvorhersehbare Ereignisse auszulösen.
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