Unter Hochdruck

Weltweit arbeiten Regierungen am Aufbau einer eigenen Wasserstoffwirtschaft. Das Gas soll die Energiewende in die Schwerindustrie bringen, in Wohnungswirtschaft und Logistik. Welche Schwerpunkte setzen die Strategen?

Dezember 2020
Autoren: Kilian Zimmer, Frank Robaschik, Michael Sauermost, Laura Sundermann

Grüner Stahl aus Europa – verhüttet mit der Energie der australischen Sonne. So etwas könnte mittelfristig Wirklichkeit werden. Fest steht, dass Wasserstoff, das leichteste der chemischen Elemente, die globalen Wertschöpfungsketten in mehreren Wirtschaftsbereichen neu ordnen wird. Neben Deutschland stellen sich gerade zahlreiche Staaten darauf ein.

So haben weltweit 20 Regierungen eine nationale Wasserstoffstrategie verabschiedet oder arbeiten daran. 31 Staaten unterstützen nationale Wasserstoffprojekte. Nimmt man die darin enthaltenen Ankündigungen für bare Münze, könnte im Jahr 2050 die globale Nachfrage nach Wasserstoff bei 9.000 Terawattstunden liegen. Das hat die Beratungsgesellschaft Ludwig Bölkow Systemtechnik für die deutsche Geschäftsstelle des Weltenergierats berechnet. Zum Vergleich: Deutschland hat im Jahr 2019 insgesamt rund 55 Terawattstunden Wasserstoff verbraucht – der größte Teil ging in der Industrie. Das enorme Potenzial ergibt sich aus der Vielseitigkeit von Wasserstoff als Speicher für erneuerbar erzeugten Strom und als synthetischer Grund-, Kraft- und Brennstoff in der Industrie, im Transport- und Wärmesektor. Industrielle Prozesse in der Stahl-, Zement- oder Glasherstellung zum Beispiel benötigen sehr hohe Temperaturen, die erneuerbarer Strom nicht erreichen kann. Diese Prozesse lassen sich also nicht mit Strom aus Wind- oder Solarenergie betreiben. Aber der grüne Strom kann Wasserstoffelektrolyseure speisen.

In der Chemieindustrie, beispielsweise bei der Herstellung von Düngemitteln, braucht es große Mengen Wasserstoff, die heute aus fossilen Quellen stammen und so für CO2-Emissionen verantwortlich sind. Wasserstoff könnte als synthetischer Kraftstoff im Schwerlast-, Schiffs- und Flugverkehr zum Einsatz kommen. Brennstoffzellenkraftwerke könnten mit der Energie aus grünem Wasserstoff Wohnungen mit Strom und Wärme versorgen.

Wasserstoffarten

Wasserstoff (chemisch: H) ist das häufigste chemische Element im Universum. Experten verwenden unterschiedliche Farben, um die Art zu kennzeichnen, wie der Wasserstoff jeweils gewonnen wurde.

Grauer Wasserstoff: Wasserstoff aus fossilen Brennstoffen, wird mithilfe eines Verfahrens namens Dampfreformierung etwa aus Erdgas gewonnen. Es macht heute etwa 71 Prozent der Wasserstoffproduktion aus und verursacht CO2-Emissionen.

Blauer Wasserstoff: Die Gewinnung ist dieselbe wie bei grauem Wasserstoff. Der wichtigste Unterschied: Hersteller sammeln das entstandene CO2, lagern es oder binden es anderweitig. Die CO2-Emissionen sind dadurch deutlich geringer als bei grauem ­Wasserstoff.

Rosa Wasserstoff: Wasserstoff, der durch Elektrolyse mithilfe von Kernenergie erzeugt wird und keine CO2-Emissionen verursacht.

Grüner Wasserstoff: Er wird mit erneuerbarer Elektrizität durch Elektrolyse hergestellt und macht aktuell weniger als ein Prozent der weltweiten Wasserstoffproduktion aus.

Weißer Wasserstoff: Das ist der natürlich vorkommende geologische Wasserstoff aus unter­irdischen Lagerstätten.

Zwei Hauptstrategien sind erkennbar

Wann, in welchen Sektoren, in welcher Menge, und in welcher Farbe Wasserstoff zum Einsatz kommt, wird von Land zu Land unterschiedlich sein. Das hängt unter anderem mit der Frage zusammen, wie viel Wasserstoff ein Land günstig selbst erzeugen kann und wie viel es importieren muss. Verschiedene Faktoren entscheiden über die Ziele, die sich Staaten für die Entwicklung des inländischen Wasserstoffsektors gegeben haben. Es gibt einige Kernthemen: die Industriebasis im Land, die Gasinfrastruktur und die Voraussetzungen zur günstigen Erzeugung von grünem Strom zum Beispiel. Auch die Energiesicherheit spielt eine wichtige Rolle. Davon abhängig setzen die Strategien der Staaten dann teils unterschiedliche Schwerpunkte.



Zwei Haupttendenzen lassen sich dabei ausmachen: Entweder zielen Staaten darauf ab, den Energierohstoff selbst zu erzeugen und zu raffinieren. In Pipelines oder Tankern wollen sie perspektivisch die Weltmärkte damit versorgen. Oder sie konzentrieren sich auf den Aufbau einer einheimischen Wertschöpfungskette von Wasserstofftechnologien wie Elektrolyseuren oder Brennstoffzellen, die später in den Export gehen sollen. Alle Planer sehen das flüchtige Gas als zentrales Element zur Dekarbonisierung ihrer Energiesysteme an und nehmen besonders den Industrie- und Transportsektor in den Blick.

Die ostasiatischen Staaten, allen voran Vorreiter Japan, richten ihr Augenmerk auf den Transportsektor, insbesondere das Pkw-Segment. Auf den Straßen Japans sollen bis zum Jahr 2030 mindestens 800.000 Brennstoffzellenfahrzeuge (Fuel Cell Electric Vehicle, FCEV) unterwegs sein. Japan hat früh Strategien entwickelt, um Wasserstofftechnologien zu fördern. So haben japanische Unternehmen vielseitiges Know-how aufgebaut. Inzwischen gibt es bereits vollständige Wertschöpfungsketten im Automobilsektor. Beispielsweise will Toyota den Mirai, sein Wasserstoffauto der zweiten Generation, künftig pro Jahr 30.000 Mal vom Band laufen lassen. Die Marktforscher von Fuji Keizai beziffern das globale Marktvolumen für FCEV im Jahr 2030 auf 19,1 Milliarden US-Dollar, 2018 waren es noch rund 650 Millionen US-Dollar.

Südkorea
Linde macht den Hoffnungsträger flüssig

Südkorea treibt die Wasserstoffwirtschaft im Lande schnell voran, der Schwerpunkt liegt auf dem Thema Mobilität. Aktiv daran beteiligt ist der Industriegasspezialist Linde. Das Unternehmen ist Mitglied der Hydrogen ­Convergence ­Alliance in Südkorea, die sich der Förderung und Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft im Lande verschrieben hat. Anfang 2020 schloss Linde mit dem Autobahnbetreiber Korea Expressway Corporation einen Vertrag zum Bau und 15-­jährigen Betrieb von vier Wasserstofftankstellen in der Provinz Süd-Chungcheong, die Linde von seinem Werk in Pyeongtaek aus beliefern will. Im April 2020 folgte eine Absichtserklärung von Linde und Hyosung, bis 2022 rund 250 Millionen US-Dollar zu investieren: in den Aufbau eines Werks zur Herstellung von flüssigem Wasserstoff, den Transport von Wasserstoff sowie den Bau und den Betrieb von Wasserstofftankstellen. Das geplante Werk in Ulsan soll eine jährliche Kapazität von 13.000 Tonnen Wasserstoff haben. Damit wäre es laut Hyosung die größte ­Anlage zur Herstellung von flüssigem Wasserstoff weltweit. Linde soll die Technik liefern, um den Wasserstoff zu verflüssigen, den Hyosung produziert. In den ersten acht Monaten des ­Jahres 2020 haben die Behörden in Südkorea knapp 4.000 Wasserstoffautos neu zugelassen. Neben dem vorgesehenen Wasserstoff von Linde kommen an Südkoreas Wasserstofftankstellen unter anderem auch Kompressoren, Messtechnik und automatische Abschaltsysteme deutscher Firmen zum Einsatz.


Foto: Flüssiggasanlage des deutschen Anlagenbauers Linde: Das Unternehmen ist seit mehr als hundert Jahren auf den Umgang mit Wasserstoff spezialisiert. © Linde plc

Sonnige Staaten wollen exportieren

In der steigenden globalen Nachfrage nach Wasserstoff sehen viele Staaten großes Geschäftspotenzial. Australien und zahlreiche Staaten der Arabischen Halbinsel bauen daher in ihren Strategien besonders auf den Aufbau von Erzeugungskapazitäten für Wasserstoff – um ihn zu exportieren. Was für Australien als einen der weltweit größten Lieferanten von Energierohstoffen heute Kohle und Flüssiggas sind, soll künftig Wasserstoff sein. Dafür arbeitet das Land am Aufbau einer Exportindustrie. Um Wasserstoff wettbewerbsfähig vermarkten zu können, müssen die heute noch hohen Kosten für ein Kilogramm fallen. Die Australier wollen das ab 2025 mithilfe von Skaleneffekten durch Großprojekte erreichen.

Neben blauem Wasserstoff aus Erdgas steigt das Interesse der Investoren und Projektentwickler vor allem an grünem Wasserstoff. Australien besitzt durch seine hohe Sonneneinstrahlung perfekte Voraussetzungen, um den dafür nötigen Strom günstig in Fotovoltaikparks zu erzeugen und so die Kosten für grünen Wasserstoff zu senken. Ähnlich stellen sich Staaten der Arabischen Halbinsel und in Nordafrika auf.

Die KfW Entwicklungsbank hat den Trend erkannt: Sie plant, in Power-to-X-Infrastruktur und Wasserstoffproduktionsanlagen in Marokko, Algerien, Tunesien und Ägypten zu investieren, und schafft aktuell die Voraussetzungen dafür. Bis Ende 2021 sollen Consultants im Auftrag der KfW unter anderem Projektskizzen, Ausschreibungsunterlagen und Leistungsbeschreibungen für vorbereitende Studien erstellen. Danach können deutsche Unternehmen im Wasserstoffsektor besser einschätzen, welche Leistungen die KfW genau ausschreiben wird. Für die Staaten Nordafrikas ist besonders die geografische Nähe zur EU als weltweit größtem Wirtschaftsraum und damit als Exportziel für Wasserstoff interessant.

Denn die Europäer waren in diesem Jahr besonders fleißig. Neben der EU-Wasserstoffstrategie haben sechs europäische Staaten 2020 Wasserstoffstrategien veröffentlicht: die Niederlande, Norwegen, Spanien, Portugal, Frankreich und Deutschland. Die Dekarbonisierung der Industrie steht in den Strategien weit oben auf der Agenda.

Die EU-Wasserstoffstrategie legt den Schwerpunkt auf wasserstoffintensive Industrieprozesse wie in Raffinerien, bei der Ammoniakherstellung und der Stahlproduktion, wo durch grünen Wasserstoff die CO2-Emissionen bis auf null sinken sollen. Die dafür notwendigen Investitionszyklen erstrecken sich über Jahrzehnte, die nötigen Weichenstellungen sind überfällig. Die Zeit drängt also. Laut EU-Kommission könnten bis 2030 allein 430 Milliarden Euro in der EU in die Wasserstoffwirtschaft fließen. Eine neu eingerichtete European Clean Hydrogen Alliance, an der zahlreiche deutsche Technologieanbieter teilnehmen, erstellt gerade eine Investitionsagenda.

Marokko
Grüner Wasserstoff für den Export

Im Sommer 2020 haben Regierungsvertreter das deutsch-marokkanische Wasserstoffabkommen unterzeichnet. Das Königreich ist der erste ­Partner einer derartigen Wasserstoffallianz. Deutsche Finanziers sollen mit der Marokkanischen Agentur für nachhaltige Energie (Masen) und dem Forschungsinstitut zu erneuerbaren Energien (Iresen) vor Ort grünen Wasserstoff erzeugen und dann exportieren.

Parema, die deutsch-marokkanische Energiepartnerschaft, berät die Regierung, die derzeit an einer nationalen Wasserstoff-Roadmap arbeitet.

Auch das Interesse im Inland ist groß. Der Düngemittelriese Office Chérifien des Phosphates könnte durch die Herstellung von grünem Ammoniak auf kostspielige ­Importe verzichten. Wasserstoffkapazitäten vor Ort könnten das Stromnetz stabilisieren, durch das zunehmend erneuerbare Elektrizität fließt.

Marokko hat einen wichtigen Pluspunkt: Mit dem in Ouarzazate errichteten, riesigen Solarkomplex gibt es ein richtungsweisendes Leuchtturmprojekt zur Erzeugung erneuerbaren Stroms. Auch dadurch steht die Ampel für Wasserstoff auf Grün. Die KfW steuerte 830 Millionen Euro zum Projekt bei und nimmt aktuell auch das Thema grüner Wasserstoff in Marokko in den Blick: Die Bank finanziert für Masen eine Studie mit dem Titel „Energie zu Wasserstoff in Marokko: Energiespeicherung und andere potenzielle Anwendungen“. Sie soll einen Überblick über den Wasserstoffmarkt in Marokko geben.


Foto: Solarkraft Werk Noor III im marokkanischen Ouarzazate. Sonnenreiche Staaten setzen auf die Erzeugung von grünem Wasserstoff aus erneuerbaren Energien. © Polaris/laif

Globale Lieferketten entstehen

Für deutsche Unternehmen bietet diese Neuordnung enormes Geschäftspotenzial. Von der Erzeugung von grünem Wasserstoff durch deutsche Offshorewindturbinen und Elektro­lyseure, über Gasinfrastruktur und Druckbehälter bis hin zu Brennstoffzellen haben deutsche Hersteller schon heute viel zu bieten. Ein starker heimischer Leitmarkt soll nach der Strategie der Bundesregierung das Rückgrat für die Bedienung der Weltmärkte durch Wasserstofftechnologien made in Germany sein.

Dann könnte zum Beispiel bald grüner australischer Stahl, verhüttet mit Wasserstoff aus deutschen Elektrolyseuren, auf den Weltmärkten landen.