Welthandelsorganisation: Im Räderwerk
Sie wollen außerhalb der Europäischen Union Geschäfte machen – und suchen den richtigen Einfuhrzoll? Willkommen im Welthandel. Die Zoll- und Rechtsexperten von GTAI deklinieren den Export eines Fahrrads in die Ukraine und nach Russland durch – und erklären daran die Besonderheiten der Welthandelsorganisation (WTO) sowie ihrer Abkommen GATT und GATS.
Oktober 2021
Autoren: Karin Appel, Nadine Bauer, Karl Martin Fischer und Melanie Hoffmann
Stellen Sie sich kurz vor, Sie bauen Fahrräder. Schnittige Hightechgeräte aus ultraleichten Carbonfasern, mit Keramikscheibenbremsen und Zahnkränzen aus hochfestem Stahl. Typische Ingenieurskunst made in Germany eben, gepaart mit den besten Komponenten aus aller Welt. Und stellen Sie sich nun als Nächstes vor – nachdem sie diese Geschosse schon erfolgreich in die Beneluxstaaten, nach Frankreich und Polen exportieren –, dass als Nächstes ein Nicht-EU-Land drankommen soll. Sagen wir: die Ukraine, weil teure Rennräder dort gerade schwer in Mode sind.
Welche Regeln gelten? Was, wenn Sie auch einen Fahrradverleih aufmachen wollen? Nur wenige Exporteure suchen gleich bei der Welthandelsorganisation (WTO) nach Antworten, dabei wäre sie genau die richtige Anlaufstelle. Die Spielregeln, denen sich die WTO-Mitglieder verpflichtet haben, vor allem die Abkommen GATT und GATS sowie die Listen, auf denen sie basieren: Sie bilden das Getriebe, das den Welthandel am Laufen hält.
Weil das Thema so komplex ist, hat ein Team von GTAI-Experten das fiktive Beispiel vom Fahrradexporteur einmal in allen Facetten durchgespielt – und schaltet in Sachen Komplexität dabei immer weiter hoch. Woran Exporteure denken müssen:
1. Gang – Wie hoch ist der Zollsatz?
Unser Exporteur will Fahrräder von Deutschland in die Ukraine exportieren. Für Waren gilt das General Agreement in Tariffs and Trade (GATT). Die Ukraine hat für WTO-Mitglieder einen MFN-Zollsatz von maximal zehn Prozent festgelegt. Weil es zwischen der Europäischen Union und der Ukraine aber zusätzlich ein Freihandelsabkommen gibt, können Exporteure deutsche Fahrräder sogar zollfrei einführen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind.
Merke: MFN-Zollsätze eines Landes gelten – abgesehen von bilateralen Freihandelsabkommen – immer für alle WTO-Mitglieder gleichermaßen.
Zoll oder nicht Zoll?
Nichtdiskriminierung, Transparenz, Gegenseitigkeit und Liberalisierung sind fest verankerte Prinzipien im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT). Ziel des Abkommens: Der Handel zwischen den 164 WTO-Mitgliedern soll nach einheitlichen und fairen Regeln ablaufen. Zu deren Einhaltung verpflichtet sich jeder Staat mit seinem WTO-Beitritt.
Was bedeuten die GATT-Prinzipien aber für die Praxis? Wer Fahrräder von Deutschland in die Ukraine exportiert, muss sich als Erstes um Zollanmeldung und Warenbegleitdokumente kümmern. Die WTO verpflichtet ihre Mitglieder zwar zum Zollabbau. Doch dieser erfolgt nur schrittweise, sodass für den Import zahlreicher Waren immer noch Zollabgaben anfallen.
Laut GATT-Prinzipien handelt jedes Mitgliedsland Maximalzölle für bestimmte Waren aus und hält diese dann in Listen fest (Artikel II GATT). Die Zollsätze sind verbindlich. Sie dürfen nicht überschritten, sondern lediglich unterschritten werden. Um kein WTO-Mitglied zu diskriminieren, gelten sie für alle gleichermaßen. Das Prinzip lautet „Meistbegünstigung“ (Most Favoured Nation/MFN, Artikel I GATT).
Die Vorgaben setzt natürlich auch die Ukraine um und legt für Fahrräder (Zolltarifnummer 8712.00.70) einen maximalen MFN-Zollsatz von zehn Prozent fest. Er gilt einheitlich für alle WTO-Mitglieder im Sinne der Meistbegünstigung. Daneben setzt die Ukraine für Waren, die nicht aus Gebieten stammen, die unter die Meistbegünstigung fallen, ebenfalls einen Zollsatz von zehn Prozent an.
Unser fiktiver Fahrradexporteur hat Glück, denn es gibt über den MFN-Zollsatz hinaus auch ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union (EU) und der Ukraine. Unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine Zollvergünstigungen (Artikel XXIV GATT). Für den konkreten Fall bedeutet das: Fahrräder können zollfrei in die Ukraine eingeführt werden, wenn sie nachweislich aus der EU oder der Ukraine kommen oder dort ausreichend be- oder verarbeitet wurden.
Dafür muss nicht mal unbedingt das vollständige Fahrrad aus Deutschland stammen. Den Status der Ursprungseigenschaft kann eine Ware auch schon dann erlangen, wenn die verwendeten Vormaterialien zu einem ausreichenden Anteil aus Deutschland stammen.
»Die Regelungen, die internationale Geschäfte ermöglichen oder auch verhindern, sind das Räderwerk des Welthandels, aber Außenstehende nehmen sie kaum wahr.«
Karl Martin Fischer
Ausländisches Wirtschaftsrecht bei GTAI
Nationale Standards?
Aber damit sind nicht alle Hürden aus dem Weg geräumt. Trotz Zollfreiheit können nichttarifäre Hemmnisse den Warenhandel erschweren. Dazu zählen die Maßnahmen, die nicht in Listen oder Zolltarifen auftauchen, ausländischen Teilnehmern den Zugang zum inländischen Markt aber trotzdem erschweren. Die WTO verbietet so etwas in Artikel XI GATT zwar. Das bedeutet aber nicht, dass es das nicht gibt.
In der Ukraine zum Beispiel – um beim fiktiven Fahrradexporteur zu bleiben. Bei der Einfuhr von Fahrrädern verlangt sie einen sogenannten „Konformitätsnachweis“, damit auch tatsächlich alle importierten Fahrräder den nationalen Standards und Normen genügen. Dieser ist für die Zollabfertigung und den späteren Verkauf zwingend erforderlich. Grundsätzlich kann jeder Importeur die Konformität der Ware erklären. Nur muss eben vorher eine akkreditierte Institution in der Ukraine seine Erklärung registrieren. Erst nach diesem Prozedere gibt es für das Fahrrad den Konformitätsnachweis als Eintrittskarte in den ausländischen Markt.
Wollen sie mehr wissen?
Wichtige Fragen und Antworten rund um WTO, GATT und GATS. Die Welthandelsregeln in sechs Punkten.
2. Gang – Gibt es weitere Handelsbarrieren?
Sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse können eine zusätzliche Hürde bilden. Auch wenn die WTO sie verbietet, greifen dennoch zahlreiche Staaten darauf zurück. Beispiel: Exporteure können Fahrräder nur in die Ukraine einführen und dort verkaufen, wenn sie einen Konformitätsnachweis erbringen – und alle Voraussetzungen erfüllen.
Merke: Exporteure sollten sich rechtzeitig informieren.
Andere Regeln in Russland
Sind die deutschen Fahrräder einmal in der Ukraine am Markt, ist die Expansion in ein Nachbarland naheliegend. Wie wäre es etwa mit einem zweiten Standbein in Russland? Auch wenn Russland ebenfalls Mitglied der WTO ist und sich damit ihren Prinzipien verpflichtet hat, sieht die Lage dort etwas anders aus.
Zwischen der EU und Russland besteht kein Freihandelsabkommen, sodass deutsche Fahrräder mit dem von Russland festgelegten MFN-Zollsatz von ebenfalls zehn Prozent belastet werden. Weitere nichttarifäre Maßnahmen: Für Fahrräder ist erneut ein Konformitätsnachweis fällig, in diesem Fall entsprechend den Anforderungen der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). Zu dieser gehören auch Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgisistan.
Die Länder haben ihre nationalen Normen und Standards schrittweise harmonisiert. Importe müssen also nicht nur die Anforderungen eines einzelnen Mitgliedstaates, sondern die der gesamten Zollunion erfüllen. Bei Fahrrädern für Erwachsene sind das die Anforderungen der Technischen Regulierung (TR) ZU 010/2011, bei Kinderfahrrädern die Bestimmungen der TR ZU 007/2011. Das Prozedere ähnelt dem in der Ukraine: Der Konformitätsnachweis wird vom Importeur erklärt und muss vor der Einfuhr bei einem akkreditierten Labor registriert werden.
Außerdem hat Russland im Jahr 2019 ein Konzept zur digitalen Kennzeichnung vieler Warengruppen gestartet. Durch einen Data-Matrix-Code (2D-Code) sollen Waren von der Herstellung bis zum Endverbraucher lückenlos rückverfolgt werden können. Die 2D-Codes enthalten umfangreiche Informationen zu einer Ware. Ab September 2021 ist die Kennzeichnung für Fahrräder und Fahrradrahmen obligatorisch. Deutsche Fahrräder müssen also noch vor der Einfuhr in Russland die digitale Kennzeichnung erhalten. Diesen 2D-Code kann nur eine russische juristische Person generieren. Dafür braucht ein Exporteur entweder eine Tochtergesellschaft in Russland oder er beauftragt einen russischen Dienstleister. Diese wenden sich mit dem Antrag für den 2D-Code an das Zentrum für die Entwicklung fortschrittlicher Technologien (CRPT).
Dienstleistung geplant?
Auch für Dienstleistungen gilt WTO-Recht – und zwar in Form des Abkommens General Agreement on Trade in Services (GATS). Dienstleistungen sind zwar nicht zollpflichtig, unterliegen aber vielen anderen Regelungen. Zunächst kommt es immer darauf an, wie Dienstleistungen erbracht werden. Artikel I des GATS kennt vier Erbringungsarten.
Modus 1: Die Dienstleistung überschreitet die Grenze etwa per Telefon oder Internet, während Erbringer und Empfänger in ihrem jeweiligen Land bleiben. Im Modus 2 reist der Empfänger ins Ausland. Im dritten Modus kommt eine Einrichtung des Dienstleisters ins Spiel, die sich im Empfängerland befindet. Beispielsweise erbringt eine Tochterfirma die Leistung. Schließlich Modus 4: Der Erbringer der Dienstleistung reist selbst ins Ausland.
Unabhängig von dem jeweiligen Modus gewähren WTO-Mitglieder den Unternehmen aus anderen Vertragsstaaten zwei wichtige Privilegien: Marktzugang (Artikel XVI GATS) und Gleichbehandlung mit inländischen Anbietern (Artikel XVII GATS). Das klingt zunächst verlockend, doch leider gelten diese Rechte nicht umfassend. Denn das vollständige Bild ergibt sich erst aus der Liste der spezifischen Verpflichtungen des jeweiligen Landes (Schedule of Specific Commitments).
3. Gang – Kann ich auch Dienstleistungen exportieren?
Ja, und zwar auf verschiedene Arten. Mal überschreitet die Dienstleistung selbst die Grenze, mal der Dienstleister. Aber: In allen Fällen behalten sich die WTO-Mitglieder Beschränkungen vor. Diese dienen zumeist der Wahrung von Qualitätsstandards (etwa Qualifikationsnachweisen), manchmal aber auch dem Schutz der eigenen Wirtschaft oder des Arbeitsmarktes.
Merke: Besonders stark reguliert ist in der Regel die Auslandsreise des Dienstleisters.
Große Freiheit …
Diese Listen sind die Dreh- und Angelpunkte des internationalen Dienstleistungshandels. Sie bringen die konkreten Regelungen für alle vier Modi und für bestimmte Dienstleistungen auf den Punkt. Ansprüche auf Marktzugang für ausländische Unternehmen sowie auf Gleichbehandlung mit inländischen Unternehmen gibt es nur für Dienstleistungen, die in der Liste genannt sind. Auch der konkrete Umfang der Garantie ist vermerkt – und zwar differenziert nach den verschiedenen Erbringungsarten.
Zunächst ergibt sich aus der Liste also das Versprechen zum Marktzugang – aber dahinter steckt noch mehr. Gleichzeitig verbietet die Erwähnung in der Liste bestimmte Beschränkungen. Zum Beispiel dürfen keine Obergrenzen festgelegt werden – weder für den Gesamtwert der Geschäfte noch für die Anzahl ausländischer Dienstleistungserbringer. Auch bei Kapitalbeteiligungen aus dem Ausland und der Wahl der Unternehmensform ist eine gewisse Freiheit vorgeschrieben. Allerdings können die WTO-Mitglieder einmal mehr im Einzelfall von der Regel abweichen, wenn ein entsprechender Vermerk in der Liste notiert ist.
… mit der Tücke im Detail
Zurück zu dem deutschen Fahrradexporteur: Wenn das Unternehmen in der Ukraine mit Dienstleistungen rund um Fahrräder Geld verdienen möchte, muss es das nächste Regelwerk beachten. Grünes Licht hat es, wenn wie im Modus 3 etwa eine ukrainische Tochtergesellschaft einspringt und das Verleihgeschäft (CPC 831-832) übernimmt. Dafür gewährt die ukrainische GATS-Liste nämlich Marktzugang.
Die gleichen Möglichkeiten eröffnen sich für einen Fahrradgroß- oder -einzelhandel (CPC 62266 oder 63293) und eine Fahrradwerkstatt (CPC 633). Ein wichtiger Hinweis in diesem Zusammenhang: CPC-Nummern beziehen sich auf die Central Product Classification der UN, in denen Waren und Dienstleistungen klassifiziert werden. Diese Nummern verwenden die WTO-Listen zur Beschreibung der verschiedenen Dienstleistungen.
Anders sieht es allerdings im Modus 4 aus, wenn der Dienstleistungserbringer ins Ausland reist. Dann benötigt er ein Arbeitsvisum, dessen Erteilung sich nach ukrainischem Recht richtet. Hier kann leider auch das Handelsabkommen zwischen der Ukraine und der EU keine Abhilfe schaffen. Zwar enthält es im Vergleich zum GATS einige Verbesserungen. Doch sie helfen dem Fahrradexporteur nicht weiter. Damit spiegelt sich in den Bestimmungen eine weltweite Tendenz wider: Mit Liberalisierungen in Modus 4 ist man sehr vorsichtig, denn es geht immer auch um Migration – ein heißes Eisen.
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