»Wir brauchen einen europäischen digitalen Binnenmarkt«

Interview mit Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften

Februar 2018

Deutschland hat den Begriff Industrie 4.0 geprägt – andere Länder haben eigene Begriffe gesetzt. Wird Deutschland international immer noch als Vorreiter gesehen?

Das internationale Interesse an dem Zukunftsprojekt Industrie 4.0 ist nach wie vor groß. Deutschland hat hier eine Vorreiterrolle übernommen – man traut uns einiges zu. In China beispielsweise genießt das Konzept der Industrie 4.0 hohes Ansehen.

Industrie 4.0 wird dort häufig als Vorbild gesehen, jedoch höre ich dort mitunter auch die Sorge, dass das Land in eine Sandwichposition zwischen neuen Niedriglohn-Standorten und hochmodernen Industrie 4.0 Standorten geraten könnte. Optimisten dagegen hoffen, schnell den Sprung auf die Stufe der Industrie 4.0 zu schaffen und Zwischenschritte auszulassen.

Wenn Sie das Verständnis für das Thema Industrie 4.0 international sehen – schränkt Deutschland den Begriff zu eng ein?

Wir sind bei der Entwicklung des Konzepts Industrie 4.0 bewusst von deutschen Stärken ausgegangen. Wir haben einen hochmodernen Produktionssektor und so viele große und mittelständische Weltmarktführer wie kein anderes Land. Darauf aufbauend wollten wir eine Vision für die Digitalisierung entwerfen.

Mittlerweile wird der industrielle Kern in vielen Ländern als Treiber von stabilem Wirtschaftswachstum wiederentdeckt, deshalb ist das Interesse groß. Wir haben von Beginn an betont, dass die digitale Transformation nicht nur die Produktion umfasst, sondern ebenso die gesamte Wirtschaft.

Hierzulande verfolgen wir deshalb neben Industrie 4.0 das Zukunftsprojekt Smart Service Welt, das datengetriebene Geschäftsmodelle, digitale Plattformen und dynamische Geschäftsökosysteme in allen Sektoren der Wirtschaft in den Fokus rückt. International wird Industrie 4.0 in der Regel als Gesamtvision für die digitale Transformation der Wirtschaft verstanden.

» Deutschland hat eine Vorreiterrolle übernommen, man traut uns einiges zu. Darauf sollten wir uns aber nicht ausruhen.«

Henning Kagermann, Präsident der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften

Haben Sie prägnante Beispiele für Länder, die bei diesem Thema andere Schwerpunkte setzen?

In China fährt man derzeit das Programm „China 2025“, für das Industrie 4.0 Vorbild war. Es war jüngst auch Thema des Parteitags der Kommunistischen Partei. Die japanische Regierung hat die Initiative „Society 5.0“ gestartet und „Industrial Value Chain Initiative“ mit einem Schwerpunkt auf Robotik.

In Südkorea gibt es die „Smart-Factory Initiative“ und seit kurzem das umfassendere Programm „4. Industrielle Revolution“, eine Kombination aus Industrie 4.0 und Smart Service Welt. Das in den USA gegründete „Industrial Internet Konsortium“ hat einen breiteren Fokus, geht aber beim Thema Produktion nicht so sehr ins Detail.

Das britische „Catapult-Programm“ oder die schwedischen Initiative „Produktion 2030“ greifen ebenfalls die zentralen Themen von Industrie 4.0 auf. Es gibt also durchaus länderspezifische Schwerpunkte, Vision und Zielsetzung sind jedoch weitgehend identisch.

Wo steht Deutschland bei Industrie 4.0 im internationalen Vergleich? Wo ist es anderen Ländern voraus, und wo hinkt es hinterher?

Wir haben eine vielfältige Wirtschaft mit Stärken in vielen Industriesegmenten und den Ruf, komplexe Systeme hervorragend aufbauen und beherrschen zu können. Natürlich darf man sich darauf aber nicht ausruhen – die Initiativen Industrie 4.0 und Smart Service Welt waren in diesem Sinne auch als Weckruf gedacht.

Knapp die Hälfte der kleineren und mittelständischen Unternehmen zögert noch, ihre Unternehmensbereiche auf die Digitalisierung auszurichten. Hier müssen wir Fahrt aufnehmen. Auch sind uns andere Länder im B2C-Bereich deutlich voraus: Dort gelingt die am Nutzer orientierte Verknüpfung von Produkten und Services viel besser.

Zudem sehe ich beim Thema Künstliche Intelligenz Nachholbedarf, die immer stärker in den Mittelpunkt rückt: Hier haben wir zwar exzellente Institutionen, aber in Summe haben die USA und wahrscheinlich auch China einen Vorsprung. Eine weitere Schwäche ist unser Heimatmarkt, der im Vergleich zu den USA oder China relativ klein ist. Deshalb brauchen wir einen europäischen digitalen Binnenmarkt.